Beobachtung in drei Wahllokalen. Wandsbek, Winterhude, Wilhelmsburg - wie wo gewählt wurde und warum so wenig
Hamburg. Der Himmel über Hamburg ist so unentschlossen wie wohl so mancher Wähler an diesem Sonntagmorgen auch. Die aufgehende Sonne färbt den Horizont erst glutrot. Wenige Minuten später mischen sich orangefarbene Schleier hinein, dazwischen türkisgrüne Streifen und schließlich ein leuchtendes Gelb. Als um 7.13 Uhr die Straßenlaternen erlöschen, präsentiert sich die Stadt ganz in Gold. Es ist der 20. Februar 2011. Wahltag in Hamburg. Eine Stadt stimmt ab.
Edda Buck ist eine der Ersten, die sich an diesem frostigen Morgen auf den Weg ins Wahllokal machen - eines von 1284, die jetzt über die Stadt verteilt öffnen. Sie kommt aus Winterhude, Wahlkreis 8. Der Stadtteil schläft noch, als die Rentnerin um 8.05 Uhr im Goldbekhaus ihre Kreuze macht. Sie weiß genau, was zu tun ist. Ihr Sohn hat ihr die Wahlunterlagen erklärt.
In der Turnhalle am Ufer des Goldbekkanals sind gleich drei Wahlbezirke einquartiert, abgetrennt durch dicke schwarze Theatervorhänge. Am Abend zuvor wurde hier, im Kulturzentrum von Winterhude, noch gefeiert. Jetzt ist die spröde Atmosphäre eines Wahllokals in das sonst so kreative Haus eingezogen. Die Wahlhelfer haben Tische aufgestellt, aus dickem Karton Wahlkabinen gebastelt, sie haben bunte Stapel von Stimmzettelheften vor sich ausgebreitet. Alles ist vorbereitet. Nur die Wähler lassen auf sich warten.
675 sollen es sein. Um neun Uhr notiert Wahlvorstand Patrick Horst ganze fünf Wähler. Horst ist Politikwissenschaftler und findet das neue Wahlrecht überflüssig. Mehr Partizipierungsmöglichkeiten seien zwar gut. Doch sinnlos, wenn man die Kandidaten nicht kenne. "Es werden weniger Wähler kommen", prophezeit er.
Im Süden der Stadt beginnt der Wahlsonntag ähnlich schleppend, wie Wahlvorsteher Dirk Freuer gegen 10.30 Uhr im Wahllokal Georg-Wilhelm-Straße in Wilhelmsburg feststellt. Der 44-Jährige kennt sich da aus. Seine Mutter Brigitte, heute seine Stellvertreterin, macht den Wahljob schon seit mehr als 20 Jahren. Auch ihre Tochter ist heute dabei, die Schwägerin, Freundinnen. "Wir haben uns hier ein Team aufgebaut, auf das man sich verlassen kann", sagt die 72-Jährige und verteilt an die ersten Wähler Bonbons. Sehr familiär geht es hier im Reiherstiegviertel zu. Das Wahllokal ist an normalen Tagen ein Dartklub. Wer hier warten muss, kann eine Runde Billard spielen. Hinter den Wahlhelfern sind elektronische Dartscheiben aufgebaut, Bier-Werbung flimmert über dem aufgehängten Schild "Wahlbezirk 137.04".
Etwas gesetzter, wenngleich nicht weniger familiär, geht es derweil in der Schule am Eichtalpark in Wandsbek zu. In einem Klassenraum, heute zum Wahllokal umfunktioniert, hängen an einer Leine Bilder mit Fischen und lachenden Sonnen. Darunter schützen umgedrehte Kartons die Wähler vor neugierigen Blicken. Hier und heute hat Karl-Heinz Zwerg das Sagen. 71 Jahre alt, Tweed-Sakko, Seidenkrawatte. Ein sehr höflicher, sehr sorgfältiger Mensch. Zwerg ist der Wahlvorsitzende des Wahlbezirks und zuständig dafür, dass nichts schiefläuft am Tag der Entscheidung. Ein quirliges Team von Wahlhelfern arbeitet unter ihm. Zehn Leute im Schichtbetrieb, die für ihre Arbeit an der Wahlfront je 400 Euro "Erfrischungsgeld" erhalten, dafür aber auch in den kommenden drei Tagen rund um die Uhr mit der Stimmenauszählung befasst sein werden. Rund 15,5 Millionen Euro kostet die Wahl in Hamburg, insgesamt sind gut 17 000 Helfer mit dem Zählen beschäftigt.
Im Goldbekhaus in Winterhude bekommen die Wahlhelfer an diesem Vormittag unterdessen prominenten Besuch. Der frühere "Tagesschau"-Sprecher Wilhelm Wieben, 75, gibt seine Stimmen ab. Er sehe die Wahl als Bürgerpflicht, sagt er. "In anderen Ländern werden die Menschen erschossen, weil sie für mehr Mitbestimmung kämpfen. Und wir sitzen zu Hause auf dem Sofa und meckern rum." Und das neue Wahlrecht? "Kein Problem", sagt Wieben.
Das hört man von älteren Menschen in Wandsbek nicht allzu oft. Dort sind es gerade die Senioren, die mit dem neuen Wahlsystem hadern, einige sind regelrecht erbost. Der Wahlbezirk 513.08 umfasst die obere Walddörferstraße. Viele Rentner leben hier, kaum urbane Hipster oder Anzugträger. Dafür betreten Damen im Pelz und Herren im Seiden-Blouson das Wahllokal. Ältere Menschen, die mit den 20 Kreuzchen in den vier Abstimmungsheften in Gelb, Rosa, Blau und Grün gelegentlich überfordert sind. Warum, fragen sie, dieser Aufwand? Warum diese Papierverschwendung? Ihnen erklärt Wahlvorstand Karl-Heinz Zwerg dann, dass die Initiative "Mehr Demokratie" das neue Wahlrecht durchgesetzt hat. "Ich finde, das Wahlrecht ist Idiotenkram", sagt Rentner Bernd Hübert, 68. "Mit dem alten System ging's doch ruckzuck, und jetzt so ein Aufwand." Anders die Meinung von Tobias Knötzele, 41: "Ich habe länger gebraucht, um durchzusteigen, aber das Wahlrecht ermöglicht mir, Leute, die ich gut finde, gezielt nach vorne zu bringen."
Doch solche positiven Äußerungen sind hier eher selten, die Wahlbeteiligung dafür ausgesprochen niedrig, wie Wahlvorstand Zwerg feststellt. In Winterhude ist die Situation ähnlich: Um 12 Uhr liegt sie im Wahlkreis 8 bei gerade mal zehn Prozent.
Im Dartklub in Wilhelmsburg ist man da schon weiter. Auffallend viele junge Leute kommen zum Wählen. Oft auch mit kleinen Kindern. Wahlhelferin Iris Westphal nimmt da schon einmal ein Baby in den Arm - damit eine junge Mutter wählen kann. Probleme mit den 20 Stimmen hat man hier offensichtlich wenig. "Das ist sehr praktisch", sagt die Fotografin Anna Bresztowszky, 29, die erst vor wenigen Monaten von Hannover nach Wilhelmsburg gezogen ist, weil "das dort so sein soll, wie in der Schanze früher".
Aber auch Alt-Wilhelmsburger wie Jürgen Eggerstedt, 62, haben kaum Mühe mit dem neuen Wahlrecht. "Ich habe gezielt Kandidaten aus dem Stadtteil gewählt - weniger bestimmte Parteien", sagt er. Gegen 13 Uhr ist nun Halbzeit in dem Wahllokal, die Beteiligung bei mehr als 15 Prozent. "Das ist mehr als sonst und muss an den Studenten liegen, die jetzt hier wohnen", sagt Wahlvorsteherin Freuer.
Doch das neue junge Wilhelmsburg kann den Trend wohl nicht ändern, am frühen Nachmittag zeichnet sich in Hamburg eine niedrige Beteiligung ab. So bessert sich auch in Wandsbek nichts mehr. Mehr als zehn Minuten lässt sich jetzt in dem Klassenraum-Wahllokal niemand blicken. Gegen 16.30 Uhr haben knapp über ein Drittel der 1050 Stimmberechtigten gewählt. "Kundschaft", ruft eine der Wahlhelferinnen, als sich kurz vor Schließung wieder einmal ein einsamer Wähler sehen lässt. Dann kommen sogar sechs auf einmal. "Kommen Sie rein", sagt Wahlvorstand Zwerg fröhlich, "wir haben noch viele Stimmen zu vergeben."