Gertrud Märczel ist auch mit 99 Jahren noch Trainerin der Seniorenabteilung. Mittwochs bringt sie den Gymnastikkursus ins Schwitzen.
"Los, Mädels", ruft die Übungsleiterin, "strengt euch an und nehmt die Beine hoch!" Die "Mädels" sind im Schnitt 75 Jahre alt. Reine Küken im Vergleich zur Turnlehrerin. Die heißt Trudel und feiert am Montag ihren 100. Geburtstag. Heute heizt sie den Seniorinnen des TSV Wandsbek-Jenfeld in der Turnhalle an der Jenfelder Straße mal wieder so richtig ein - wie jeden Mittwoch.
Sie schwingt die Arme und lässt den Oberkörper kreisen, geht in die Knie und streckt sich. Aus ihrem alten Grundig-Kassettenrekorder, den sie eben mit arthritischen Fingern in Gang gesetzt hat, tönt "Hello Dolly". Trudel macht Ausfallschritt und Wechselschritt. Die Seniorinnen keuchen, schwitzen und geben ihr Bestes. Doch alle Mühen sind vergeblich: So anmutig wie Trudel ist keine.
Gertrud Märczel, wie Trudel richtig heißt, ist Deutschlands älteste Fitnesstrainerin und eine Hamburger Institution. Generationen von Hanseaten hat sie für Sport begeistert. Trudel, eine gebürtige Berlinerin, kam als Einjährige nach Hamburg. Als sie im Alter von sieben Jahren Rückenprobleme bekam, wurde sie zum Turnen geschickt; 1918, der Erste Weltkrieg war gerade vorbei.
Schon nach den ersten Turnstunden hatte die kleine Trudel ihre Passion gefunden. Zwei Jahre später war sie bereits Vorturnerin bei den Knaben. "Das war eine große Ehre für mich", erinnert sie sich, "weil Jungs und Mädchen damals noch getrennt turnten." Dass die Jungen sie respektierten, lag an ihrer schon damals großen Durchsetzungsfähigkeit. "Ich bestimme eben gern."
Noch heute macht es ihr sichtbar Vergnügen. "Po nach oben und Arme runter!", ruft sie ihren Damen zu. Und beweist ihnen, dass sie noch immer mit den Fingerspitzen auf den Boden kommt - mit durchgedrückten Knien! Die ersten Turnerinnen machen schon mal Pause. Trudel sagt dazu nichts. Obwohl sie das letzte Mal als junges Mädchen im Krankenhaus war und höchstens einmal in 90 Jahren eine Stunde hat ausfallen lassen, hat sie Verständnis, wenn andere schwächeln.
1929 nahm die junge Übungsleiterin, die wie ihr Vater, ein Glasbläser, Mitglied in der SPD war, mit drei Tanzgruppen an der Arbeiter-Olympiade in Wien teil. Bis 2009 war sie jedes Jahr bei den Arbeitersportlern zu Gast - dann wurden die Treffen mangels Teilnehmern eingestellt.
Mit den Nazis stand sie trotz deren Körperkult von Anfang an auf Kriegsfuß. Erst recht, als sie "ihren" Turnverein 1933 auflösten - der Arbeitersport passte nicht in ihr Weltbild. Kein Wunder, dass die selbstbewusste Trudel nicht mit "Heil Hitler" grüßen wollte, als sie ein Jahr später als Kaffeepackerin bei Darboven anfing. Was den Obmann in Nazi-Uniform ärgerte, freute den Chef. "Darboven wollte keinen Hitler-Gruß in seiner Firma", erinnert sich Gertrud Märczel. Stattdessen macht der Kaffeeunternehmer sie zur Vorarbeiterin. Und zu seiner Vertrauten: Er beauftragte sie, heimlich Frühstückspakete an die polnischen Zwangsarbeiterinnen zu verteilen.
Trudel setzt ihre gold umrandete Brille auf - mit dem Hörgerät eines der wenigen Zugeständnisse, die sie dem Alter macht - und sucht eine neue Musikkassette aus. Dann setzt sie sich auf die Bank. Ihre Damen machen jetzt Volkstänze - das können sie allein.
Bis zum Alter von 37 Jahren hatte Trudel allen Widrigkeiten des Lebens die Stirn geboten. Dann folgte eine Zeit, von der sie nur ungern erzählt. Schuld war ihr Mann Hans. Ihn hatte sie als 15-Jährige beim Tanzen kennengelernt, 1934 geheiratet und mit ihm und einer Handvoll Gleichgesinnter 1945 einen neuen Verein Wandsbek 1881 gegründet. Drei Jahre später, sie war schwanger, verguckte sich ihr Hans in eine andere. Trudel erlitt eine Fehlgeburt. Nach der Scheidung zog ihr Exmann mit seiner Neuen in die kleine Villa, für die auch Trudel hart gearbeitet hatte. "Später schickte er mir dann seine Älteste zum Turnen", sagt sie bitter. Immerhin verurteilte ihn ein Gericht, ihr ein neues Haus zu bauen. Klein und karg, in einer Jenfelder Seitenstraße gelegen, ist es noch heute ihr Zuhause.
Fünf Jahre war Gertrud Märczel arbeitslos gewesen - jetzt musste sie plötzlich für ihren Lebensunterhalt sorgen. Einer aus dem Vereinsvorstand brachte sie bei der Hochbahn unter, wo sie sich zur Vorarbeiterin und Betriebsrätin hocharbeitete. "Anfangs hieß es für mich von morgens um vier bis mittags um zwölf Wagen waschen", erinnert sich Trudel. Harte Arbeitszeiten, doch für sie waren sie die Rettung. So konnte sie die Nachmittage mit Turnen und Leichtathletik verbringen, Handball spielen und Turnunterricht geben. Das gab ihr Halt.
Ihre jahrzehntelange Vereinstätigkeit brachte ihr sogar Auszeichnungen ein. 1981 den Ehrenbrief des Deutschen Turnerbundes und 1998 die "Medaille für Treue Arbeit im Dienste des Volkes".
Die Damen, die sie heute ins Schwitzen gebracht hat, unterrichtet sie seit 1976. Um 16 Uhr, die Stunde ist zu Ende, begeben sich die Damen in die Umkleidekabine. Trudel, in wadenlangem Rock und spitzenverziertem Angorahemd, klopft sich auf die welke Haut ihres Dekolletés. "Alles echt, nichts geliftet", scherzt sie. "Immer noch betörend, oder?" Dann ruft sie lachend einer Frau in der Umkleidekabine zu: "Christa, hast du keine Angst, mir deinen Rudi so häufig auszuleihen?" Der 75-jährige Rudi ist wie alle im Verein sehr um Trudels Wohl bemüht. Zwar führt sie noch ihren Haushalt und hält auch ihren Garten selbst in Schuss - "Bewegung und viel frische Luft ist das Beste für ein langes Leben" - doch ist sie auf Unterstützung angewiesen. Ihre Helfer bringen das Mittagessen vorbei, fahren sie zum Sport und halten den Gehweg eisfrei. Zu ihnen gehört auch Wolfgang, der Sohn ihres 1971 verstorbenen Lebensgefährten Otto. "Mit dem", sagt Trudel, "habe ich die zwölf schönsten Jahre meines Lebens verbracht."
Aufhören als Übungsleiterin will sie frühestens im März. "Sport ist doch mein Leben!" Und so umarmen die Damen ihre alte Turnlehrerin, bevor sie nach Hause gehen, und sagen: "Tschüs, Trudel, bis nächsten Mittwoch!"