Die im Internet verbreiteten Details der WikiLeaks-Enthüllungen verraten viel über die Sicht der amerikanischen Diplomaten
"Haben Sie schon Ihren WikiLeak gesehen?" So oder ähnlich begrüßten sich in Berlin und wahrscheinlich in anderen Hauptstädten zahlreiche Mitglieder des außenpolitischen Establishments, als die ersten Pakete der amerikanischen Botschafts- und Außenministeriumsdepeschen nach und nach ins Internet gestellt wurden.
Wer sich trotz Kontakten zu US-Diplomaten nicht in einem der Botschaftstelegramme zitiert fand, konnte beginnen, an der eigenen Bedeutung zu zweifeln. Einige derer, die offen mit amerikanischen Botschaftsvertretern gesprochen haben, mögen sich im Nachhinein auf die Zunge gebissen haben. In wenigen Fällen waren persönliche Konsequenzen zu tragen. Beschwerden von Personen, die sich nicht ausreichend zitiert sahen, sind bislang nicht bekannt, können es aber im Zuge weiterer Veröffentlichungen werden.
Bei 250 000 Dokumenten ist kaum zu erwarten, dass alles interessant oder gar wichtig ist. Manches wird pure Langweile sein: Oder wer möchte schon die ausführlichen Berichte des Wirtschaftsreferenten an der Botschaft in Wien aus den ersten Jahren dieses Jahrhunderts nachlesen?
WikiLeaks passt insofern in eine Welt der Informationsüberflutung. Dank Google. Wir können davon ausgehen, dass die ersten 500 oder 1000 der "geleakten" Dokumente auch die "Best-of"-Liste darstellen. Die Realität, die sich in den Dokumenten spiegelt, ist zumindest zweifach gefiltert: durch die Entscheidungen amerikanischer Diplomaten, was sie berichten, und durch die Vorauswahl von WikiLeaks. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch fragen, was die veröffentlichten Dokumente uns eigentlich sagen und welche Relevanz die Veröffentlichung für internationale Politik und Diplomatie haben könnte. Die meisten Berichte enthalten, was Außenministerien von Berichten ihrer Botschaften erwarten. Es geht um die Einschätzungen neuer Entwicklungen im Gastland, die Einschätzung führender Personen, die Wiedergabe von Gesprächen, die von amerikanischen Politikern und Beamten oder von ortsansässigen Diplomaten im jeweiligen Land geführt worden sind. In der Berichterstattung haben Depeschen aus Saudi-Arabien, aus den Vereinigten Arabischen Emiraten oder aus anderen arabischen Staaten Aufmerksamkeit gefunden, in denen über Politiker aus diesen Ländern berichtet wird, die sich besonders negativ über den Iran geäußert, ihre Furcht vor dem iranischen Atomprogramm zum Ausdruck gebracht oder sogar ein energisches amerikanisches Vorgehen gegen den Iran oder sein Nuklearprogramm gefordert haben. Für informierte Beobachter war dies in der Substanz aber kaum neu. Dass die Eliten der meisten arabischen Staaten der Führung in Teheran misstrauen, dass sie den Beteuerungen, das Atomprogramm diene ausschließlich zivilen und friedlichen Zwecken, nicht glauben, war nie ein Geheimnis.
Wichtiger als der Informationsgehalt über Politiker oder informierte Beobachter kann die Wirkung auf die Innenpolitik einzelner Staaten sein.
Wenn führende Politiker im Gespräch mit US-Diplomaten offenbar zugeben, dass sie ihr eigenes Parlament oder ihre eigene Öffentlichkeit belügen, wenn sie von den Amerikanern aggressive Schritte gegen ihre Nachbarn oder gar gegen ihre innenpolitischen Mit- oder Gegenspieler fordern, obwohl sie der eigenen Öffentlichkeit gegenüber von Freundschaft oder Zusammenarbeit sprechen, dann lässt dies den ohnehin verbreiteten Zynismus in der Bevölkerung wachsen. Viele Menschen im Nahen und Mittleren Osten sind überzeugt, dass die Regierungen sie belügen und sie mit den Amerikanern oder dem Westen auch da unter einer Decke stecken, wo sie behaupten, eine unabhängige Politik zu machen. Die Botschaftsberichte scheinen dies zu bestätigen. Dies gibt im Zweifel extremistischen Kräften Auftrieb, die genau dies schon immer behauptet haben.
Fazit: Die WikiLeaks-Veröffentlichungen sind letztlich von mäßigem Interesse für Regionalexperten. Sie erklären uns einiges über die Weltsicht der US-Diplomaten. Gleichzeitig schadet die Veröffentlichung der Diplomatie, in erster Linie der amerikanischen. Sie kann amerikanische Politik gegenüber anderen Ländern tendenziell eher schlechter werden lassen.
Schaden hat vor allem die amerikanische Diplomatie, nicht nur, weil der Datenraub peinlich ist und eine Weltmacht trifft, über deren relativen Niedergang weltweit debattiert wird. Sondern vor allem, weil die Vertraulichkeit zum Kapital jedes diplomatischen Dienstes gehört und dieses Kapital nun erheblich an Wert verloren hat.
Prof. Dr. Volker Perthes, 52, leitet die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik.