Der Hamburger Beamte Walther M. Gerdts kann um viele Ecken denken. Er ist im Nebenberuf Spiele-Autor. 50.000 hat er schon verkauft.

Hamburg. Dieser Mann führt ein Doppelleben. In dem einen ist Walther Moritz Gerdts der zuverlässige Beamte. Gegen acht Uhr verlässt er das Haus und die Familie. Steigt in die S-Bahn Richtung Stadthausbrücke. Setzt sich gegen neun in sein Büro in der Wirtschaftsbehörde. Schaltet dort den Rechner ein und befasst sich mit betriebswirtschaftlichen Dingen. Walther M. Gerdts ist ein zuverlässiger Kollege, widmet sich mit Hingabe dem Staatsdienst. Er mag Zahlen. Und Strategien, die liegen ihm auch. Er kann um viele Ecken denken.

In seinem anderen Leben heißt der Staatsdiener Walther Gerdts "Mac". Mac kennt das Zeitalter des Imperialismus genau. Er kennt Hamburg im 17. Jahrhundert mit seinen gewaltigen Festungsanlagen und weiß um die Völker der Antike, ihre Tempel und Legionen. Er hat sich das Wissen bis ins Detail angeeignet, um aus toten Erzählungen lebendige Spiele fürs Leben zu bauen. Mac ist Spiele-Autor. Sechs Brettspiele hat er in den vergangenen fünf Jahren auf den Markt gebracht. In der Vielspieler-Szene hat der 48-Jährige längst einen Namen. Das Spiel "Imperial" verkaufte sich mehr als 13.000-mal. Sein Nachfolger "Imperial 2030" kommt im Ausland allein auf 11.500 Exemplare. Allein 4000 wurden in die USA exportiert. Zu den Kunden gehören auch China, Russland, Holland und Frankreich. Insgesamt wird "Imperial" weltweit in mehr als 60 Ländern gespielt.

Auf dem Klavier im Wohnzimmer stehen kleine gläserne Pokale. Auszeichnungen für Macs Spiele. Die bedeutendste stammt aus Portugal. Dort wurde "Imperial" 2006 zum "Spiel des Jahres" gewählt. Sein erstes Spiel "Antike" erreichte 2006 beim Deutschen Spiele-Preis den dritten Platz. Das 2007 erschienene Spiel "Hamburgum" stand ein Jahr später im Finale des International Gamers Awards. Und mit seiner jüngsten Erfindung "Navegador", die er mit seinem Verleger Peter Dörsam im Oktober auf der Spielemesse in Essen vorgestellt hat, landete er bei einer Umfrage der Zeitschrift "Fairplay" auf dem dritten Platz - von fast 700 Spielen.

Mac findet solche Auszeichnungen gut. Aber sie sind für ihn nicht das eigentliche Ziel seines Schaffens. "Ich erfinde Spiele, weil es mir Freude macht", sagt er. "Aus Leidenschaft. Da steckt viel Herzblut drin." Und weil er anderen damit Freude machen könne. Die Themen kommen aus der Historie. In "Hamburgum" tauchen die Spieler in das Hamburg des 17. Jahrhunderts ein, produzieren Bier, Zucker und Tuch und verkaufen ihre Waren mit ihren Schiffen in ferne Länder. Sie konkurrieren um Bauplätze für ihre Gebäude, um die besten Hafenbecken für ihre Schiffe und um die prestigeträchtigsten Kirchenspenden. Denn weder Geld noch Gut, sondern Prestige entscheidet das Spiel. In "Imperial" ringen sechs europäische Großmächte um Macht und Einfluss kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dabei werden sie von skrupellosen internationalen Investoren gesteuert. Jeder Spieler schlüpft in die Rolle eines dieser Investoren und versucht mit Krediten den Lauf der Geschichte in seinem Sinne zu beeinflussen. Und in "Navegador" wird der Spieler zur Handelsdynastie, beteiligt sich am Aufbau des weltumspannenden portugiesischen Kolonialreiches.

Zehntausende Spieler zwischen zwölf und 80 Jahren sind weltweit in den vergangenen Jahren in die Rollen geschlüpft, deren Räume Mac Gerdts in seinen Spielen für sie geschaffen hat. Christian Beiersdorf hat eine plausible Erklärung für diesen Erfolg. Beiersdorf ist Vorstandsmitglied der Spiele-Autoren-Zunft, 61 Jahre alt, und zeit seines Lebens Fachmann in Sachen Brettspiele. Er vertritt 430 Spiele-Autoren in Deutschland, Europa und Übersee.

Beiersdorf weiß, warum die Menschen so gerne spielen. "Im Spiel können sie in eine andere Rolle schlüpfen. Da wird die Mutter zur wilden Börsenzockerin, die Kinder gewinnen gegen ihre Eltern." Beim Spiel könne man reale Regeln ignorieren, völlig neue Dinge ausprobieren, aus dem Alltag ausbrechen. Beiersdorf ist seit Jahrzehnten in der Spieler-Szene aktiv. Er hat beobachtet, dass seit Ende der Achtziger auch immer mehr Ältere spielen, über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg. "Es gibt eine breite Begeisterung, die immer weiter zunimmt", sagt er.

Heute kommen jährlich mehrere Hundert neue Spiele auf den Markt. Mehr als 430 Millionen Euro werden die Bundesbürger 2010 für Gesellschaftsspiele ausgeben - acht Prozent mehr als im Vorjahr und gleichzeitig so viel wie keine andere Nation weltweit, wie die Fachgruppe Spiel im Verband der Spielwarenindustrie meldete.

Dabei wurde den klassischen Brettspielen im Zeitalter von Computern und Konsolen schon mehrfach das Ende prophezeit. Doch die Spielleidenschaft der Deutschen entwickelt sich offenbar parallel zur Entwicklung der elektronischen Spiele. "Computerspiele haben ihren Reiz", sagt Beiersdorf. "Aber das Glitzern in den Augen des Gegenspielers zu sehen, diesen Spaß hat man nur bei konventionellen Spielen."

"Ich will nicht auf das dumme Gesicht verzichten, das der andere macht, wenn ich ihm etwas wegnehme", sagt Mac Gerdts. Um genau die richtige Mischung aus Freude und Ärger, Erfolg und Scheitern im Spielverlauf zu erreichen, tüftelt Mac oft monatelang an einem Spiel. Immer wieder werden Ideen aufgegriffen, Spielzüge getestet und wieder verworfen. Dutzende Male wird ein Prototyp ausprobiert, bis die endgültige Fassung in die Produktion gehen darf. Ideen zu neuen Spielen kommen ihm beim Lesen, in der S-Bahn oder mitten in der Nacht. Dann steht er auf, notiert die Einfälle in ein Notizbuch.

Aus ersten Aufzeichnungen wird schnell ein Prototyp. Das Spielbrett sägt Mac im Werkzeugkeller seiner kleinen Stadtvilla zurecht. Darauf spannt er sorgfältig den am Computer erstellten Spielplan. Aus Holz schnitzt er kleine Figuren, Schiffe und Handelswaren. Er druckt Karten aus, schneidet Münzen aus Pappe zu. "So perfekt, wie Mac das macht, macht das kein Zweiter", sagt sein Verleger Peter Dörsam. Der 44-Jährige hat einen kleinen Buchverlag in Heidenau zwischen Hamburg und Bremen. Seit er Macs Spiele kennengelernt hat, ist er von diesen begeistert. 2005 kam die Idee, das Verlagsprogramm deshalb auf Spiele auszuweiten.

Dörsam ist Macs bester Kritiker und eifrigster Testspieler. Wenn ihm etwas nicht gefällt, verwirft Mac seine Idee wieder. Und solange der Autor selbst noch Verbesserungschancen sieht, gibt auch er keine Ruhe. "Das Bessere ist der Feind des Guten", lautet sein Motto. Bis zuletzt arbeitet der Volkswirt an seinen Spielen. Bei "Navegador" wurden noch im September Veränderungen vorgenommen. Im Oktober wurde das Spiel herausgebracht. Pünktlich zur Messe in Essen.

2000 Exemplare haben Mac und sein Verleger direkt an einen amerikanischen Partner verkauft. 1500 Stück gingen an Kunden aus Deutschland. Weitere 1500 werden jetzt nachproduziert. Mit "Navegador" liegen die beiden schon jetzt im Plus. Es ist ein Spiel für den breiteren Markt. Insgeheim erhofft sich Verleger Dörsam damit einen durchschlagenden Erfolg. "Bei ,Navegador' könnte ich mir vorstellen, dass wir auch über die Vielspieler hinaus viele Menschen begeistern können", sagt er.

Spiele-Autor Mac nimmt das Ganze gelassen. "Das ist mein Hobby." Seine Leidenschaft zum Hauptberuf zu machen, das wäre nichts für ihn. "Ich bin froh, dass ich einen anderen Beruf habe", sagt er. "Ich möchte nicht unter Druck jedes Jahr ein neues Spiel erfinden müssen, das sich gut verkauft." Schließlich habe er Verantwortung, ein Haus, eine Frau, einen Sohn. Dieser ist vier Jahre alt und spielt lieber mit der Eisenbahn als mit Papas Strategiespielen. Er weiß, dass sein Vater einmal in der Woche Freunde dahat - zum Spielen. Dass die Spiele den Autorenschriftzug Mac Gerdts tragen, begreift er noch nicht.

Inzwischen wird Macs erfolgreichstes Spiel "Imperial" auch im Internet auf "brettspielwelt.de" gespielt. "Schnurzel" ist einer der erfolgreichsten User. Rund 500 Spieler treffen sich jeden Monat am digitalen Spielbrett, um den Lauf der Geschichte in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Darüber hinaus gibt es neuerdings die Idee, "Navegador" für das iPad weiterzuentwickeln. Ein Mann aus Polen sprach Mac auf der Messe an. Er wolle eine künstliche Intelligenz für eines seiner Spiele entwickeln. Damit man "Imperial" mit dem iPad spielen könne. Mac hat für einen Moment nicht schlecht gestaunt. Bevor er sich wieder dem Spieltisch zuwandte, den Stift zur Hand nahm und sein Brettspiel für einen Fan handsignierte. Die Augen, in die er in diesem Moment geblickt hat, haben vor Freude geleuchtet.