Enttäuschte Hamburger nutzen Volksentscheide als Ventil.
Demokratie ist die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk. So formulierte es einst der amerikanische Präsident Abraham Lincoln. Bezieht man dieses Zitat auf die aktuelle Situation der parlamentarischen Demokratie in Hamburg, läuft - vorsichtig ausgedrückt - einiges schief in der Hansestadt. Zunächst beschließen alle in die Bürgerschaft gewählten Parteien eine Schulreform. Doch direkt befragt lehnt das Volk dieses Vorhaben ab. Dann verabschiedet der Senat höhere Kita-Gebühren. Und wieder droht der Politik ein Volksentscheid, über den diesmal eine kostenfreie sechsstündige Kinderbetreuung durchgesetzt werden soll. Gleichzeitig will Schwarz-Grün - trotz leerer Kassen - mit der Stadtbahn ein mehrere Hundert Millionen Euro teures Prestigeprojekt realisieren, obwohl die Mehrheit der Hamburger dieses Vorhaben für überflüssig hält.
Volk und Bürgerschaft entfremden sich in Hamburg voneinander. Diese Tatsache hat viel mit der auf Länderebene einmaligen Koalition aus CDU und Grünen zu tun. Zwei Parteien, die zwei vollkommen unterschiedlichen politischen Lagern zuzuordnen sind, regieren gemeinsam. Da sind einst nicht vorstellbare Kompromisse plötzlich möglich. Die GAL muss die Elbvertiefung und das ungeliebte Kohlekraftwerk schlucken. Die bürgerliche CDU gibt mit ihrem Ja zur Schulreform das traditionelle Gymnasium preis. Fast alles ist möglich, nur um die eigene Machtposition zu zementieren. Und die Wähler wenden sich mit Grausen ab. Denn sie wissen: Eine GAL in der Opposition hätte der Erhöhung der Kita-Gebühren niemals zugestimmt. Und eine opponierende CDU wäre mit Blick auf den Haushalt gegen die Stadtbahn.
Apropos Opposition. Im ursprünglichen Sinne findet sie derzeit in der Hansestadt kaum statt. Bei der Schulreform konnten die Sozialdemokraten nicht aus ihrer Haut, stimmten aus Überzeugung für das schwarz-grüne Projekt. Bei den Kita-Gebühren war ihr Aufschrei - vermutlich aus Staatsräson mit Blick auf die hohen Schulden - nur halblaut. Und die umstrittene Stadtbahn begrüßt die SPD zumindest offiziell, denn die Sozialdemokraten wollen es sich ganz offensichtlich nicht mit der GAL, dem möglichen Koalitionspartner von morgen, verderben.
Viele Hamburger suchen sich aus Enttäuschung über diese Machtspiele ihr Ventil, opponieren kraftvoll, wollen nicht nur einmal in vier Jahren ihre Stimme abgeben. Sie erfüllen Abraham Lincolns Zitat mit neuem Leben.