Immer tiefer, immer teurer: Die Ölkonzerne haben zu den leicht förderbaren Reserven immer weniger Zugang. Sie weichen auf die Meere aus. Das Risiko steigt.

Es ist der Tag, an dem BP dicht macht, 106 Tage nach Beginn der größten Ölpest aller Zeiten. Der Tag, an dem der Konzern mit dem Verschließen der havarierten Ölquelle im Golf von Mexiko gern vergessen machen würde, was er der Welt dreieinhalb Monate lang vor Augen geführt hat: dass das Ölgeschäft noch immer sehr dreckig sein kann.

Hilmar Rempel sitzt in seinem kleinen Büro in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover. Seit Jahrzehnten analysiert der Geologe, 64, die Daten der Öl- und Gaswirtschaft, ihre großen Funde und auch ihre Katastrophen. Studiert hat der gebürtige DDR-Bürger einst in Aserbaidschans Hauptstadt Baku, der Ur-Metropole der Ölindustrie. Mit der Förderung am Kaspischen Meer begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Siegeszug des Erdöls als wichtigste Energiequelle der Neuzeit.

In vielen aufstrebenden Ländern steigt der Energiebedarf weiter deutlich an

Die wechselhafte Geschichte der Ölwirtschaft ist Rempel vertraut, doch die Dimension der Ölpest im Golf von Mexiko hat ihn überrascht: "Da ist alles schiefgegangen, von der Technik bis zum Management. Man hätte von der Bohrung nicht weggehen dürfen, ohne sie ausreichend zu sichern. Man hat dem Zeitdruck nachgegeben und einige Millionen Dollar gespart - um es nun tausendfach zu bezahlen."

Die Wucht, mit der das Öl aus der Erde in den Golf von Mexiko gepresst wurde, steht symbolisch auch für den Druck in der Ölwirtschaft. Der Bedarf nach dem Schwarzen Gold steigt, ungeachtet der jüngsten Weltwirtschaftskrise. Die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris schätzt, dass im Jahr 2030 täglich mehr als 100 Millionen Fass (je 159 Liter) Erdöl gefördert werden müssen, gegenüber rund 80 Millionen Fass heutzutage. Doch mehren sich die Hinweise darauf, dass die Ölförderung schon in wenigen Jahren ihren Höchststand erreichen wird. Dann, so sagen Experten wie Rempel voraus, wird die Produktion stagnieren, bevor sie schließlich sinkt und der Ölpreis immer weiter in die Höhe schießt.

In Schwellenländern wie China, Indien oder Brasilien verbrauchen die Menschen im Durchschnitt noch nicht annähernd so viel Energie wie in den westlichen Staaten. Und in den USA, dem Land mit dem größten Pro-Kopf-Verbrauch, ist eine Wende weg vom Öl - Golfkrise hin oder her - noch lange kein Thema, das sich politisch durchsetzen ließe. Im Gegenteil: Kaum ist die havarierte Quelle im Golf von Mexiko verstopft, verkündet die US-Ozeanografiebehörde NOAA, das ausgetretene Öl sei bereits weitgehend abgebaut oder beseitigt. The show must go on.

Für die westlichen Ölkonzerne aber wird es immer schwieriger, den Öldurst zu stillen. Jahrzehntelang kontrollierten multinationale Großunternehmen wie Exxon, Shell, BP oder Texaco einen wesentlichen Teil des Ölangebots. Amerikanische Geologen erschlossen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die gewaltigen Ölschätze Saudi-Arabiens, Briten machten den Iran zu einer Weltmacht im Ölgeschäft. Anglo-Persian Oil Company hieß der Vorläufer des heutigen Katastrophenkonzerns BP.

Inzwischen schwindet die Macht der multinationalen Energiekonzerne dahin. Die meisten ölreichen Staaten haben seit der ersten Ölkrise zu Beginn der 70er-Jahre die Kontrolle über den Rohstoff an sich gezogen, westliche Unternehmensteile verstaatlicht oder die Konzerne gleich aus dem Land geworfen. Ihren letzten Siegeszug feierte die internationale Ölbranche in den 90er-Jahren, als das wieder gegründete Russland wirtschaftlich und politisch am Boden lag. Riesige Erdölreserven gab es für ausländische Investoren zum Schnäppchenpreis, denn das Land verfügte weder über ausreichend Kapital noch über moderne Fördertechnologien.

Früher kontrollierten die Ölmultis die Reserven, heutzutage Staatskonzerne

Nachdem Wladimir Putin den hinfälligen Präsidenten Boris Jelzin abgelöst hatte, zog er über Russlands Ölfeldern jedoch rasch wieder die russische Flagge auf. Westliche Konzerne wurden zu Minderheitspartnern russischer Staatsunternehmen wie Gazprom oder Rosneft gemacht. Russlands mächtigster Öloligarch Michail Chodorkowski landete im Gefängnis, sein Konzern Yukos wurde vom Staat zerschlagen und übernommen. Andere Milliardäre wie Roman Abramowitsch verkauften ihre noch jungen Ölimperien beizeiten freiwillig und genießen ihren Reichtum lieber im sicheren Ausland.

Mit der Verstaatlichung der Rohstoffe in vielen Ländern hat sich die Geschäftsgrundlage der Ölindustrie dramatisch verändert. "Die leicht zu erschließenden Ölreserven sind für die multinationalen Energiekonzerne nicht mehr zugänglich - sie liegen in der Hand von Staatskonzernen", sagt Hilmar Rempel. Noch vor 20 Jahren kontrollierten privatwirtschaftliche Energieunternehmen rund 80 Prozent der wirtschaftlich erschließbaren Ölreserven, 20 Prozent die Staatskonzerne: "Dieses Verhältnis hat sich umgedreht."

Die international tätigen Ölunternehmen müssen entweder eng mit den Staatskonzernen kooperieren oder aber umziehen - weg von den Wüsten und Weiten Arabiens oder Russlands hinaus aufs Meer. Die Erschließung und Förderung von Reserven auf hoher See indes ist ungleich teurer und riskanter als an Land. Doch bleibt den Konzernen kaum eine Wahl. "Big Oil ist in einer Identitätskrise. Die internationalen Ölmultis haben kaum Zugriff auf neue Ölreserven, und ihre alten Felder leeren sich", sagt Fatih Birol, Chefökonom der Internationalen Energieagentur.

Die Förderung auf dem Meer bietet den westlichen Ölkonzernen noch vergleichsweise gute Wachstumschancen, auch deshalb, weil sie in der Regel über weit mehr Erfahrung und über modernere Fördertechnologien verfügen als die Staatskonzerne. "In der Tiefsee ist noch einiges zu erwarten, man sieht das am Golf von Mexiko, vor den Küsten Brasiliens und vor Westafrika", sagt Geologe Rempel. Allerdings liegen diese Reserven oft noch viel tiefer unter dem Meeresspiegel als die havarierte Quelle von BP im Golf von Mexiko. Dort mühte man sich drei Monate lang in 1500 Meter Tiefe, das Leck zu verstopfen. Der Rekord für Tiefseebohrungen liegt mittlerweile aber bereits bei mehr als 3000 Metern unter der Oberfläche.

BP lässt sich vom Desaster im Golf von Mexiko nicht schrecken. Der Konzern beginnt derzeit damit, ein großes Ölfeld vor der Küste Libyens zu erschließen. Gebohrt werden soll in 1700 Meter Wassertiefe. Italien hat bereits Widerstand gegen das Projekt angekündigt - obwohl auch vor Sizilien in großem Stil nach Öl gesucht wird.

Auch um den Nordpol herum nimmt das Gedränge der energiehungrigen Anrainer zu. Erneut schickten die USA und Kanada ebenso wie Russland Expeditionen auf den Weg, um ihre Claims im eisigen Norden abzustecken - in der Erwartung, dass im Klimawandel dereinst das Eis abschmilzt und die Rohstoffe dort erreichbar werden.

Die deutschen Unternehmen Wintershall und RWE Dea, eher kleine Energieförderer, setzen auf Spezialisierung. Sie arbeiten in wenigen Ländern wie Norwegen, Libyen, Ägypten, Argentinien oder Russland, dort aber schon seit langer Zeit. Und sie bieten Top-Technologien, seien es Spezialbohrungen oder Förderung aus Ölfeldern, die ihren Zenit überschritten haben.

Doch auch Wintershall in Kassel und RWE Dea in Hamburg spüren den verschärften Konkurrenzdruck bei der Jagd nach den verbliebenen Ölreserven. "Die Konkurrenz um Förderprojekte ist in den vergangenen Jahren generell größer geworden", sagt Wintershall-Sprecher Stefan Leunig. "Der Zugang zu neuen Reserven wird zur größten Herausforderung und der Wettbewerb um neue Quellen zunehmend intensiver. Früher war die Entwicklung neuer Lagerstätten in erster Linie eine Sache der Finanzkraft. Heute geht es stärker darum, Technologien einzubringen."

Regelmäßig schreiben die Staaten mit Öl- und Erdgasreserven die Vergabe von Erkundungs- und Förderlizenzen aus. Die Unternehmen, die daran teilnehmen, müssen sich zu bestimmten Leistungen verpflichten, etwa zu einer bestimmten Zahl von Erkundungsbohrungen. Mehrere Jahre vergehen meist, bis ein Öl- oder Gasfeld erschlossen ist. Entscheidend ist auch, welcher Teil der späteren Fördermenge bei den internationalen Unternehmen bleibt und welcher bei dem jeweiligen Staatskonzern.

"Wir hatten früher bei der Ölförderung in Libyen einen Anteil von 30 Prozent, der staatliche Ölkonzern NOC von 70 Prozent", sagt RWE-Dea-Sprecher Derek Mösche. "Seit dem Ende der internationalen Sanktionen gegen das Land ist die Zahl der Mitbieter bei den libyschen Lizenzrunden um Erdöl und Erdgas stark gestiegen. Das hat auch dazu geführt, dass der Staatskonzern NOC heutzutage 90 Prozent der Fördermenge bekommt und der ausländische Partner nur noch zehn Prozent." Zugenommen hat insbesondere die Konkurrenz durch chinesische Energiekonzerne. Chinas Energiebedarf wächst rasant. Aber auch Japan, das besonders abhängig von Energieimporten ist, habe den Druck erhöht, sagt Mösche: "Die japanischen Unternehmen gehen bei Ausschreibungen schon mal bis zur wirtschaftlichen Schmerzgrenze."

RWE Dea setzt verstärkt auf die Erdgasförderung vor allem in Ägypten. Erdgas passt besser in das Geschäftsmodell der Essener Konzernmutter RWE. Aber auch die Ausförderung älterer Felder etwa in der Nordsee gehört zum Angebot von RWE Dea. "Wir sind flexibler als Großunternehmen und können aus älteren Feldern im Zweifel eher noch gewinnbringend Öl oder Erdgas gewinnen", sagt Mösche.

Konkurrent Wintershall hat sich mit moderner Technologie ebenfalls auf die lukrative Resteverwertung spezialisiert: "Teilweise kann man die Ausförderung bei Ölfeldern von rund 20 bis 30 auf bis zu 50 Prozent steigern", sagt Stefan Leunig. "Wenn man nur ein Prozent mehr aus den bestehenden Lagerstätten herausholt, erhöht das die Reservenreichweite der Welt um ein Jahr."

In zehn Jahren könnte die Ölförderung ihren Höhepunkt erreichen

Noch ausgefeiltere Fördertechnologien, vor allem aber die Hinwendung zu den Lagerstätten in der Tiefsee werden nötig sein, um die bequeme Versorgung mit Erdöl noch um einige Jahre zu strecken. Millionen Jahre dauerte es, bis aus organischen Substanzen im Erdinneren Kohle, Erdöl und Erdgas entstanden. Nur rund eineinhalb Jahrhunderte nach dem Beginn der industriellen Förderung hat die Menschheit bereits den größten Teil des sogenannten "konventionellen", relativ leicht förderbaren Erdöls verheizt oder in der chemischen Industrie verbraucht.

Welch radikale Entwicklungen am Ölmarkt bevorstehen könnten, zeigte sich zwischen Mitte 2007 und Mitte 2008, als sich der Preis je Fass auf 145 Dollar in etwa verdoppelte. Je knapper das Öl wird, desto eher und öfter muss die Welt mit scharfen Preisanstiegen rechnen. Und ein wichtiger Teil des Ölflusses, das steht für Experten fest, wird in nicht allzu langer Zeit versiegen: "Der Höhepunkt bei der Förderung von konventionellem Öl könnte in zehn Jahren erreicht sein", sagt der Geologe Hilmar Rempel. "Dann würde die Förderung Schritt für Schritt zurückgehen."