Auf den ersten Blick wirkt es ein bisschen bizarr, dass die Unesco ihren Alphabetisierungspreis in diesem Jahr ausgerechnet an Deutschland verliehen hat.
Also an das Land, das sich traditionell als Heimstätte der Dichter und Denker fühlt, als ein Hort der Schriftkultur. Dass dieses Prädikat nach Schulstudien wie PISA längst verblasst ist, weiß jeder. Aber mit dem Preis für Hamburg verdeutlicht die Unesco, dass Deutschland auch ein Einwanderungsland ist, in dem die Beherrschung der einheimischen Sprache eben keine Selbstverständlichkeit ist; und sie würdigt, dass sich das Land dieser Bildungs-Herausforderung aktiv stellt. Das ist - eine Woche nach der Zerreißprobe um die Hamburger Schulreform - doch mal eine gute Nachricht.
Sprache und Schrift sind nun mal der Dreh- und Angelpunkt, um an der Gesellschaft, der Kultur und der politischen Meinungsbildung teilzuhaben. Es fängt schon bei Kleinigkeiten an: Wer nicht das Kleingedruckte auf Medikamentenzetteln lesen kann, dosiert falsch. Handy-Verträge, Wahlzettel, Warnschilder: Wenn man sie nicht versteht, ist der Zugang zur Kommunikation, zur Mitwirkung, sogar zum Selbstschutz verbaut. Das hat komische Seiten - etwa wenn man die oft gruselig schlecht übersetzten Bedienungsanleitungen für koreanische Mixer oder chinesische Dampfkochtöpfe zu entziffern versucht. Aber es ist nicht komisch, wenn ein Kind mit den anderen keine Lieder singen oder Spiele spielen kann. Wenn es sich nicht einmal traut, etwas zu sagen, weil die Worte fehlen oder die Aussprache falsch ist. Die Sprache ist das Fenster der Seele zur Welt. Wer sie nicht hat, verzagt und verstummt buchstäblich. Ein sprachloses Kind ist wie eingesperrt. In unseren Schulen werden zweisprachige Lernprogramme noch viel zu selten genutzt. Es wurde Zeit, dass die Kulturnation Deutschland lernt, methodisch in die Zukunft zu denken und ihre Sprache auch denen zu geben, die hergekommen sind, um zu bleiben.
Das ausgezeichnete Projekt "Family literacy" setzt bei der Neugier und beim Ausdruckswillen der Kinder an. Ob es nun um "Buchstabensammeln" geht oder um zu beschriftende Familien-Fotobücher oder um kleine Geschichten, die das Kind mithilfe der Eltern erzählt: An solchen "kleinen" Gemeinschaftswerken wächst die Integration. Einbezogen sind auch deutsche Kinder und Eltern. Denn das sollte man auch nicht vergessen: In Deutschland gibt es rund vier Millionen erwachsene Analphabeten, die nur einzelne Buchstaben kennen und höchstens ihren Namen schreiben können. Das ist beschämend genug.