Von Polizisten rund um die Uhr überwacht, reist der Triebtäter Hans-Peter W. nach seiner Entlassung quer durch die Republik. Ein Nervenspiel beginnt
Am frühen Morgen des 15. Juli, einem Donnerstag, öffnen sich die großen schweren Stahltore des Cafés Fünfeck. So wird die Justizvollzugsanstalt Freiburg wegen ihres sternförmigen Hauptbaus mit seinen fünf Flügeln im Volksmund genannt. Hans-Peter W. macht nach fast 30 Jahren die ersten Schritte außerhalb von Gefängnismauern. Doch unbewacht bewegen kann sich der Serienvergewaltiger nicht. Ab sofort sind Polizisten seine ständigen Begleiter.
Die Beamten nehmen ihn in Empfang. Gemeinsam fahren sie die knapp 600 Kilometer Richtung Norden. Endstation ist nach fast sechs Stunden das idyllische Bad Pyrmont. Der Kurort ist für seine zahlreichen Heilquellen bekannt. Im nur 1000 Einwohner zählenden Ortsteil Thal hält die seltsame Karawane aus Freiburg vor einem Pflegeheim für alte Männer.
Es war der ausdrückliche Wunsch des 53-Jährigen, hierherzukommen. Er habe den Namen des Städtchens mal im Zusammenhang mit einer Therapie gehört. Deshalb zog es ihn hierhin. Bad Pyrmont also. Der erste Wunsch eines Mannes, der drei Jahrzehnte von den Regeln hinter Gefängnismauern fremdbestimmt war. Vorbereitet auf die Freiheit ist er nicht. Das Konzept, ihn für die Gesellschaft möglichst ungefährlich zu machen, besteht lediglich aus einer Eskorte von Polizisten.
Und das nicht ohne Grund. Schließlich ist W. nicht wegen einer positiven Sozialprognose entlassen worden, sondern lediglich aufgrund einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Danach darf eine Sicherungsverwahrung nicht nachträglich verlängert werden.
Seine Begleiter von der baden-württembergischen Polizei übergeben W. an ihre niedersächsischen Kollegen, die erst kurz zuvor über die Reiseziele von Hans-Peter W. informiert worden sind. Das niedersächsische Innenministerium hat zwölf Stunden zuvor von der Freilassung des als extrem gefährlich eingestuften Mannes erfahren. "Uns wurde mitgeteilt, dass es sich bei ihm um einen rückfallgefährdeten Sexualstraftäter handelt", sagt Frank Federau, Sprecher des niedersächsischen LKA. In der Freiburger Justizvollzugsanstalt gilt er als therapieunwillig. Das Unrecht, was er seinen Opfern angetan hat, sieht er nicht - bis heute.
Eingeweiht sind außer den hohen Beamten nur ein paar leitende Betreuer der Pflegeeinrichtung. Selbst Landrat Rüdiger Butte, der die Heimaufsicht in seinem Landkreis Hameln-Pyrmont wahrnimmt, weiß nichts von dem brisanten Besuch. Butte fällt aus allen Wolken, als ihn eine Redakteurin des NDR am Morgen danach anruft und um eine Stellungnahme bittet.
In dem Heim, in dem der Vergewaltiger seine erste Nacht in Freiheit genießt, ist neben der Pflegeeinrichtung auch eine geschlossene Abteilung für Drogensüchtige und Alkoholkranke. Mit einem Fall wie Hans-Peter W., dem Psychiater eine "stark abnorme Persönlichkeit" und "schwere seelische Abartigkeit" attestieren, können die Pfleger in Thal nichts anfangen. "Der Mann hätte niemals in diese Einrichtung übergeführt werden dürfen", schimpft Landrat Butte. Sie biete keine Voraussetzungen, eine Resozialisierung von W. herbeizuführen. Wieso das Landgericht Freiburg, das seinen Wohnortwunsch kannte, der Überführung trotzdem zustimmte, verstehe er nicht. Auch ihm fällt es schwer zu erkennen, dass W. nun ein freier Mann ist.
Mittlerweile, es ist Freitagmittag, tummeln sich Journalisten vor der Einrichtung. Sie filmen das Gelände und den 53-Jährigen beim Spazierengehen. Die Menschen in Thal sind verunsichert, einige äußern ihren Protest laut, Politik und Bürgermeister versuchen zu beschwichtigen. Das wird Hans-Peter W. offenbar zu viel. "Ich will hier weg", sagt er am Wochenende. Er könne angesichts des immensen Drucks der Medien für nichts garantieren, sagt er seinem Bewährungshelfer. Was genau er damit meint? Man weiß es nicht. Am folgenden Montag treffen sich Polizei- und Justizbeamte beim Landrat. Sie wollen dem Wunsch des 53-Jährigen entsprechen. Und ihn so loswerden.
Angeblich wolle er nach Hamburg, in die anonyme Großstadt. Hat ihm die hiesige Polizei diese Option schmackhaft gemacht? Das jedenfalls wird in Hamburger Polizeikreisen vermutet. Sicher ist nur, dass die Beamten aus Niedersachsen erleichtert sind.
Noch am selben Abend geht die Reise des Schwerverbrechers weiter. An der Landesgrenze zu Hamburg übernehmen Beamte des Mobilen Einsatzkommandos den 53-Jährigen. In aller Eile waren sie alarmiert worden.
Doch die Odyssee ist auch in Hamburg nicht zu Ende. Das ausgesuchte Wohnheim ist aufgrund seines Betreuungssystems für den Mann ungeeignet. Ein Zeichen dafür, dass die zuständigen Behörden zu wenig Zeit haben, um für einen derartigen Fall angemessen planen zu können.
Hans-Peter W. erhält die Auflage, sich regelmäßig bei den Behörden zu melden, er muss einen Wohnortwechsel ankündigen und seinen Betreuer informieren, wenn er seine Unterkunft verlässt. Läppische Auflagen. Also sind Polizisten in seiner Nähe, immer. Sie sprechen ihn an, folgen ihm überall hin. 24 Beamte sind nur für ihn abgestellt.
Spaziergänge macht Hans-Peter W. nicht. Er ist hauptsächlich mit Umzügen beschäftigt. Ein zweiter wird notwendig, als Reporter das neue Wohnheim finden, mit Bewohnern sprechen und Fotos machen.
Ein Umstand, der der Polizei große Sorgen macht. "Entweder er flüchtet in ein anderes Bundesland, oder er will entnervt in den Knast zurück", sagt ein Beamter, "und er weiß, dass er dafür eine Straftat begehen muss."