Seit Generationen reisen Jugendliche in Ferienlager. Die Umstände haben sich gewandelt, nicht aber die Leitmotive.
An das Kribbeln im Bauch kann man sich noch 30 Jahre später erinnern. So als wäre die Abfahrt gestern gewesen. Mit knapp elf Jahren zum ersten Mal richtig weg von zu Hause, zum ersten Mal ohne die Eltern verreisen, drei Wochen lang ins Ferienlager auf Sylt. Heimweh? Nein, das wird von der Aufregung verdrängt. Denn es ist eine Reise ins Ungewisse, auch wenn Claus, der beste Freund, mit von der Partie ist. Und eine Schachtel Zigaretten, gut versteckt im Koffer, für alle Fälle.
19 Jungen zwischen elf und 16 Jahren entern den Eilzug. Zweieinhalb Stunden rattert er quer durch Schleswig-Holstein, man steckt die Köpfe hinaus in den rauschenden Fahrtwind, bis es dem Betreuer, einem netten, umgänglichen Rentner, doch zu viel wird. Von Westerland geht es dann mit dem Bus durch eine duftende Dünenlandschaft in den Süden der Insel, nach Hörnum, wo in der Jugendherberge sofort der Kampf um die besten Schlafplätze beginnt. Die Großen besetzen die hinteren Doppelstockbetten, die Kleinen müssen vorn schlafen, dort, wo der Blick des Betreuers als Erstes hinfällt. Die Hackordnung ist klar definiert: Die Älteren führen das Wort, die Jüngeren müssen kuschen. So wie im richtigen Leben eben.
... und das große Versagen: Drei mutmaßliche Täter von Ameland gestehen
Die Grundidee entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert
Schon beim ersten Sonnenstrahl am nächsten Morgen, noch vorm Frühstück aus Graubrot, Vierfruchtmarmelade und Muckefuck, rennen die Jüngeren runter zum Strand. Der Betreuer hat Mühe zu folgen. Die Jungen staunen, wie weit die Tide das Wasser rausgezogen hat. Ebbe und Flut kennen sie ja auch nur aus den Schulbüchern. Sie beginnen, im Watt zu buddeln und sich mit Quallen zu bewerfen. Auf dem Rückweg in die Jugendherberge erklimmen sie jede Düne, um auf der anderen Seite hinunterzukullern. So was nennt man Freiheit.
Generationen haben dies erlebt und genossen. Man wohnt in Jugendherbergen, Hotels oder auf dem Campingplatz und wird dort komplett verpflegt. Kinder und Jugendliche sollen die Regeln des Zusammenlebens in der Gruppe verinnerlichen, es gilt, fremde Gesichter kennenzulernen und sich mit ihnen zu arrangieren. Daher stecken heute hinter den meisten Feriencamps altersgerechte, pädagogische Ziele: die Heranwachsenden auch ohne Eltern Natur, Kultur und Zusammenhalt erleben zu lassen.
Diese Grundidee entstand in den letzten Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts im kleinen Dörfchen Steglitz bei Berlin, wo mit den "Wandervögeln" die deutsche Jugendbewegung geboren wurde. Angesichts der Werteordnung der wilhelminischen Gesellschaft, die weder auf individuelle Freiheit noch auf das Streben nach Glück ausgerichtet war, sondern auf die preußisch-aristokratischen Vorstellungen von Treue und Gehorsam gegenüber Kaiser und Reich, brachten die "Wandervögel" erstmals eigene Bedürfnisse zur Geltung, die sich gegen die Bevormundung durch Eltern und Lehrer richteten.
Aus Tages- wurden rasch Wochenwanderungen. Das Leben war einfach, karge Mahlzeiten werden auf Spirituskochern oder über offenen Lagerfeuern zubereitet. Man übernachtete in Scheunen, später auch in Zelten und ab und zu auch mal in Dorfgasthäusern. Regen, Kälte und anderen Strapazen trotzte man mit dem fröhlichen Singen von Volksliedern und wechselseitiger Aufmunterung - und bereicherte mit bestandenen Herausforderungen seinen gemeinsamen Erfahrungsschatz.
Der erste Kuss und das erste Bier auf einer spontanen Fete
"Das echte und tiefste Erleben der Jugendbewegung ist schwer zu beschreiben und vielleicht unmöglich zu analysieren", schrieb der "Wandervogel" Hans Blüher im Jahre 1912, "das Erlebnis der Wanderung bei Nacht und Sonnenaufgang, die Atmosphäre des Lagerfeuers, der Freundschaften, die sie sich knüpften. Viel romantische Begeisterung war dabei, und es ist leichter, die Überspanntheiten dieses Gemütszustandes ins Lächerliche zu ziehen, als ihnen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen (...) Vielen der Besten in der jungen Generation Deutschlands war es ein kostbares Erleben, an das sie ihr Leben lang zurückdachten."
Diese und andere Erfahrungen machen später Millionen Jugendliche, auch jene 19 Jungen während ihrer dreiwöchigen Ferienfreizeit auf Sylt. Da ist der erste Kuss, als man auf eine Mädchengruppe trifft und eine spontane Fete veranstaltet; da ist das erste Bier, das so mancher mit Brechreiz und Kopfschmerzen übel bezahlen muss; da sind auch neue Freundschaften - doch vor allem sind da nur wenige, die über ihr Leben bestimmen.
Je länger das Ferienlager dauert, desto näher geraten die Betreuer an ihre Grenzen. Vor allem die älteren Jungen beginnen sich durchzusetzen. Sie bestimmen nun, wann das Licht ausgemacht wird, wann man durch die Fenster abhaut und wo man sich zum Rauchen trifft, zum Biertrinken und zum Knutschen. Niemand wird erwischt. Natürlich hat es auch die eine oder andere Auseinandersetzung gegeben. Eine Balgerei am Strand mit Sand in den Augen, eine Handtuchschlacht im Duschraum. Diese Erfahrungen sind schmerzhaft, aber es bleiben keine Narben zurück. Weder am Körper noch auf der Seele.
Erst als Kind und später als Betreuer
Einige der Jungen sind dabeigeblieben. Sie fahren immer wieder nach Sylt. Bis sie 16 sind - und für ein Ferienlager zu alt. Da gehen sie zelten, zu zweit oder auch zu dritt. Aber einer will auf die Ferienlager nicht verzichten und reist fortan als Betreuer mit. So lernt er auch die andere Seite kennen. Manchmal fällt es ihm schwer, Abstand zu wahren. Vor allem die älteren Mädchen himmeln den Heranwachsenden an, wenn er den Auftrag hat, die gemischte Gruppe in die Jugenddisco zu begleiten.
So wie die Kinder ihre Grenzen testen, so laufen auch die ehrenamtlichen Jugendbetreuer stets auf einem schmalen Grat. Was ist erlaubt? Wann schaut man weg, wann schaut man hin - wann greift man ein? Wer Grenzerfahrungen machen will, muss Grenzen kennen. Die sind spätestens dann überschritten, wenn Kinder verletzt werden. Die Kunst ist es, das Vertrauen der Schutzbefohlenen zu gewinnen, damit sie sich im Notfall dem Betreuer anvertrauen können - bevor das Schlimmste passiert, wie es jetzt offenbar auf Ameland geschehen ist.
Von morgens um sieben bis abends um elf und auch darüber hinaus stehen in den betreuten Ferienlagern die Kinder im Mittelpunkt. Sie sollen die Freiheit, die Gemeinschaft und die Natur erleben. Sie sollen sich beschützt fühlen und auf ihren Entdeckungsreisen doch selbstständig werden. Sie sollen Spaß haben und neue Freunde finden.
Elternabende vor der Abreise finden bei vielen kein Interesse
Natürlich funktioniert das nicht immer: Denn Kinder bekommen häufig sofort eine bestimmte Rolle zugewiesen, da sich die Reisegruppen frei zusammenfinden, je nach Organisation, ob es sich nun um einen Sportverein, die Pfadfinderschaft oder eine Kirchengemeinde handelt.
Die Aufgaben der Betreuerteams haben sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Niemand würde mehr eine Gruppe von 19 Halbwüchsigen einem Rentner anvertrauen. Oder zumuten.
Ferienfreizeiten werden akribisch vorbereitet. Meist gehen der Abreise zwei oder sogar mehr Elternabende voraus, wobei immer wieder auffällt, wie wenige Eltern dieses Angebot nutzen. Gut ist es, wenn Kinder ihre Grenzen selbst setzen können, bei möglichst minimaler pädagogischer Beeinflussung durch die Betreuer, die heute mindestens einen Jugendbetreuerschein vorweisen müssen. Wie so etwas funktioniert, erzählt ein Beispiel aus einem Zeltlager am Bodensee: Da die Jugendlichen alle um die 16 Jahre alt sind, wird zwischen ihnen und den Betreuern verabredet, neben den Softdrinks auch Bier frei zugänglich zu machen. Am ersten Abend meinen einige der Jungen, diese überraschende Freiheit in vollen Zügen genießen zu können. Mit dem niederschmetternden Erlebnis, dass die Mädchen sie abblitzen lassen. Der Kasten Bier bleibt dann bis zum Ende des Sommercamps unberührt.
An den Aufgaben wachsen und dabei erwachsen werden
Stattdessen lernt die Gruppe, Essen für 20 Personen gemeinsam einzukaufen und zuzubereiten. Dieses Vorhaben gelingt, andere Aktionen enden dagegen in einem Fiasko, wie der gemeinsame Waschtest mit (angeblich) ökologischer Seife oder eine schlecht vorbereitete Fahrradtour, die auf einer matschigen Wiese endet. Doch solche Pannen werden im wahrsten Sinne des Wortes weggelacht.
Und während des gesamten Sommercamps tauscht das Betreuerteam seine Erfahrungen und Beobachtungen untereinander aus. Und doch, so erzählen sie, wird es immer wieder Situationen geben, die unbeobachtet bleiben. So wie sie es früher selbst im Ferienlager erlebt und genossen haben. Als sie an den Herausforderungen gewachsen und dabei erwachsen geworden sind.