Demnächst erwartet die Hansestadt einen Ex-Häftling aus Guantánamo. Aber wovon lebt er, muss der Mann etwa überwacht werden?
Hamburg. Vielleicht ist es sogar der Morgen des 11. September . Ein kühler Sonnabend. Um kurz nach zehn landet am Flughafen Fuhlsbüttel eine Boeing 747 der Lufthansa. Nachdem die Passagiere den Flieger verlassen haben, bleiben noch drei Männer übrig. Sie steigen als Letzte die Gangway hinab. Der Mann in der Mitte hat einen lang wuchernden Vollbart, der ein wenig wie angeklebt aussieht. Er spricht kein Wort Deutsch und weiß nur, dass er soeben in Hamburg gelandet ist. Und vielleicht wird er nur deshalb in zwei Monaten in Begleitung von zwei Bundespolizisten erstmals in seinem Leben den Boden der Hansestadt betreten, weil hier vor zehn Jahren in der Marienstraße 54 in Eißendorf im Bezirk Harburg eine Terrorgruppe um den Ägypter Mohammed Atta unbemerkt die Anschläge auf Amerika vom 11. September 2001 geplant hatte, bei denen mehr als 3000 Menschen den Tod fanden.
Was der bärtige Mann auf dem Hamburger Flughafen ebenfalls weiß, ist, dass alles, was jetzt kommt, besser sein wird als die letzten acht Jahre. Denn da saß er im US-Gefangenenlager in Guantánamo auf Kuba. Ohne Anklage und ohne Zugang zu einem Anwalt. Immer wieder stundenlang auf beiden Knien hockend und die Hände gefesselt. Auch die Bilder von den gebrochenen Männern mit den roten Overalls in den meterhohen Maschendrahtkäfigen gingen um die Welt.
US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte im Dezember 2002 die uneingeschränkte Anwendung von Befragungstechniken der sogenannten "illegalen Kämpfer" genehmigt. Dazu gehörten das Überstülpen von Kapuzen, Entkleiden, sensorische Deprivation (Minimierung von Sinnesreizen), Isolierung, Verharren in schmerzhaften Körperhaltungen und der Einsatz von Hunden zur Erzeugung von Angst. Sechs Wochen später hob er diese Pauschalgenehmigung wieder auf und erklärte, dass für die Anwendung derartiger Techniken im Einzelfall seine Genehmigung notwendig sei. Im April 2003 erlaubte Rumsfeld Befragungstechniken wie Verschärfung der Haftbedingungen durch extreme Hitze oder Kälte und Schlafentzug. Weitere Techniken könnten von Fall zu Fall beantragt werden.
Später wurde bekannt, dass auch zwölf Minderjährige in Guantánamo gefangen gehalten wurden und dass es mehrere Selbstmorde gegeben hat. Und immer wieder gab es Selbstmordversuche. Juma al-Dossari, Doppelbürger aus Bahrain und Saudi-Arabien, hat laut Amnesty International insgesamt zwölfmal versucht, sich das Leben zu nehmen. In einem Brief an seinen Anwalt schrieb er: "Ich kann sagen, dass Leben oder Tod egal sind. Aber der Tod ist meine größte Hoffnung, meine Not, mein Leid und mein trauriges Leben zu beenden."
Welcher von beiden Kandidaten kommt, soll heute entschieden werden
Man muss sich das alles wieder in Erinnerung rufen, um vielleicht eine Ahnung davon zu bekommen, was für ein Mensch da in zwei Monaten in Hamburg ankommen wird. Und weil es solch einen "Gast" in dieser Stadt noch nie gegeben hat, stellen sich unendlich viele Fragen, von denen momentan selbst die zuständigen Behörden nur die wenigsten wirklich konkret beantworten können. Oder wollen.
Selbst die wichtigste Frage ist noch nicht geklärt: Wer von den beiden Guantánamo-Häftlingen, die Deutschland aufnimmt, kommt nach Rheinland-Pfalz und wer nach Hamburg? "Das steht noch nicht fest", sagt Stefan Paris, Pressesprecher des Bundesinnenministeriums. Nach Abendblatt-Informationen soll am heutigen Freitag bei ersten Gesprächen zwischen Hamburg und dem Bund über die praktische Umsetzung der Einreise der Guantánamo-Häftlinge entschieden werden. Sicher ist nur, dass es sich bei den beiden Personen um den Syrer Mahmud Salem al-Ali, 35, und den Palästinenser Ayman al-Shurafa, 34, handelt.
Bereits seit Februar 2007 steht fest, dass Shurafa Guantánamo verlassen kann. Die US-Behörden sehen keine Gefahr mehr in ihm. Doch der Palästinenser, der in Saudi-Arabien geboren und aufgewachsen ist, kann in keinen der beiden Staaten zurück. Die Saudis verweigern ihm die Einreise - und nach Gaza, wo seine Familie lebt, lassen wiederum die USA niemanden ausreisen. Die Amerikaner hatten Shurafa 2002 im Norden Afghanistans festgenommen. Dort hatte er sich nach Angaben der britischen Menschenrechtsorganisation Reprieve von Islamisten ausbilden lassen, aber angeblich nie mit Waffen gegen amerikanische Truppen gekämpft.
Es ist eher die Geschichte eines Gestrandeten, die Reprieve darstellt: Geboren 1975 in Jeddah (Saudi-Arabien) wuchs Ayman bei seinen Eltern mit drei Brüdern auf. Weil er dachte, es sei einfacher, sein Studium in Gaza zu beenden, wo ein großer Teil seiner Familie lebt, ist er dort hingezogen. Shurafa hat einen palästinensischen Pass. Doch der Bürgerkrieg beendete seine Studienmöglichkeiten in Gaza, und, zurück in Saudi-Arabien, bekam er wegen seines Passes keine Ausbildungsmöglichkeiten. Er entwickelte sich offenbar zu einem immer radikaleren Islamisten und reiste 2001 nach Afghanistan. Inzwischen soll er das bereuen. Angeblich wusste er damals nichts von den Taliban und al-Qaida, sondern reiste auf Geheiß eines saudischen Scheichs.
Shurafa ist beliebt bei den Wachen in Guantánamo, aber inzwischen offenbar schwer gezeichnet von der Haft. Er soll um Medikamente gebeten haben, damit "die Tage vergehen, ohne dass ich etwas spüre". Er leide sehr unter der Trennung von seiner Familie, schreibt Reprieve, und habe Angst, seine kranke Mutter nie wiederzusehen. Das Zentrum für Menschenrechts-Studien in Amerika schreibt, dass Shurafa außerdem an einer Pigmentstörung der Haut leidet, die in Guantánamo nicht behandelt wurde. Er verbringe die Tage damit, an die Wand zu starren. Denn die Farben und das Papier, das die Wachen ihm zum Malen gegeben hätten, seien ohne Angabe von Gründen vor zwei Jahren wieder eingezogen worden.
Der Aufenthalt soll zunächst auf drei Jahre befristet werden
Ebenfalls seit rund acht Jahren ist Mahmud Salem al-Ali in Guantánamo. Der Syrer, der lange in Kuwait lebte, wurde direkt in der afghanischen Hauptstadt Kabul von den US-Militärs gefangen genommen. Erschüttert über die Bilder von muslimischen Opfern in Bosnien, Tschetschenien und Afghanistan soll er sich nach einem Bericht von "Welt Online" kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 entschlossen haben, nach Afghanistan zu reisen. Und in den Dschihad, den Heiligen Krieg, zu ziehen. Zurück ließ er seine Ehefrau und ein Kind. Doch bis an die Kampflinien kam er gar nicht. Al-Ali wurde zunächst krank, dann überfallen und landete im Gefängnis von Kabul. Von dort sollen ihn die Amerikaner auf Umwegen nach Guantánamo gebracht haben. Während der Haft soll er sich sehr verändert haben.
Aber wie? Was geht in den Köpfen dieser beiden Männer vor, die einst radikale Islamisten waren und von denen nun, glaubt man Innenminister Thomas de Maizière (CDU), keinerlei Gefahr mehr für die Sicherheit Deutschlands ausgehen werde? Das ist die entscheidende Frage in dieser Geschichte der Aufnahme zweier Häftlinge, die eine derart geheime Mission gewesen ist, dass in den letzten sechs Monaten wohl nur etwa ein Dutzend Menschen in Deutschland davon wussten, sie vorbereitet und durchgeführt haben.
Sind Shurafa und Salem al-Ali in ihrer neuen Freiheit selbst gefährdet oder stellen sie doch ein Sicherheitsrisiko dar, weil sie in der Haft unter den unmenschlichen Bedingungen nichts als Hass angesammelt haben? Worauf baut die Versicherung des Innenministers? Immerhin erfährt man aus dem zuständigen Ministerium, dass sich der Entschluss, die beiden Männer aufzunehmen, sowohl auf US-Informationen als auch auf eigene Erkenntnisse stützt. Vier Experten - einer vom Bundeskriminalamt (BKA), zwei vom Innenministerium und einer vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - haben sich vor Ort mit insgesamt drei Aufnahmekandidaten intensiv unterhalten. Und sich dann für zwei entschieden.
Fest steht für die Experten, dass die Männer, die nun nach Deutschland kommen und hier nach § 22 des Aufenthaltsgesetzes zunächst eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, nicht in der Lage sein werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. "Wir müssen ihnen beim Wiedereintritt in das Leben helfen", sagt Stefan Paris. Konkret gehe es um Fragen der Sicherheit, der medizinischen Versorgung, das Erlernen der deutschen Sprache und um psychologische Betreuung.
Er soll in Hamburg "so unbehelligt wie möglich leben können"
Davon geht man auch in Hamburg aus. Bislang ist noch unklar, wie der ehemalige Guantánamo-Häftling in Hamburg untergebracht wird. Möglicherweise benötigt er nach der jahrelangen Haft psychologische Behandlung in einer Klinik. "Das Ziel ist, dass er in Hamburg so unbehelligt wie möglich leben kann", sagt Senatssprecherin Kristin Breuer. Das bedeutet auch, dass er einen Deutschkursus machen soll. Die Stadt wird ihn bei der Suche nach einer Wohnung und einem Arbeitsplatz unterstützen. Möglicherweise wird er von staatlicher Unterstützung leben. Die Hansestadt wird alle Kosten tragen müssen.
Unklar ist weiterhin, ob der neue Mitbewohner das Stadtgebiet verlassen darf und ob er zum Beispiel einer regelmäßigen Meldepflicht nachkommen muss. All das wird derzeit mit Hochdruck geprüft. Denn außer der Zusicherung aus dem Innenministerium weiß im Grunde derzeit niemand, ob es sich bei dem ehemaligen Guantánamo-Häftling um einen ungebetenen Gast handelt, der observiert werden muss - oder um einen kranken Menschen, der Hilfe braucht, um vielleicht später einmal als Beispiel für die Liberalität einer weltoffenen Stadt zu dienen.
Laut Bundesinnenministerium werden beide als freie Männer entlassen. Und nur deshalb nimmt Hamburg einen von ihnen auf - das war die Bedingung. Dennoch wird sich nun auch die Polizei mit der Biografie des Mannes befassen, der nach Hamburg kommt. "Die Staatsschutzabteilung ist bereits informiert worden", sagt Mirko Streiber, Sprecher der Hamburger Polizei. Die Beamten werden die Erkenntnisse des Bundesinnenministeriums über den ehemaligen Gefangenen auswerten. Dabei geht es um die Fragen, ob und welche Gefahren derzeit von ihm ausgehen. "Daraus entscheiden wir, ob überhaupt Maßnahmen zu treffen sind", sagt Streiber. Eine könnte durchaus Überwachung bedeuten. "Allerdings haben wir derzeit noch keine Informationen."
Beust: Durch den geht nicht die Sicherheitslage der Stadt in die Grütze
Ein denkbares Szenario könnte auch sein, dem ehemaligen Guantánamo-Insassen eine neue Identität zu verschaffen. Dafür sieht die Polizei den Opferschutz vor. Dazu müssten die Ermittler allerdings zweifelsfreie Erkenntnisse haben, dass jemand dem Mann nach dem Leben trachtet. "Dies steht allerdings noch nicht im Vordergrund", sagt ein Ermittler. "Viel wichtiger ist zunächst, ob von ihm eine Gefahr ausgeht, und erst viel später, ob er selbst gefährdet ist."
Geht es nach Bürgermeister Ole von Beust (CDU), kann die Kirche im Dorf gelassen werden. "Ich denke, wir haben eine große Verantwortung. Die maßgeblichen Terroristen des September 2001 haben in Hamburg gewohnt, Hamburg ist davon immer noch stark belastet. Hier den Vereinigten Staaten zu zeigen, dass wir Verantwortung ernst nehmen, ist die eine Seite", sagte er gestern dem Fernsehsender Hamburg 1. "Die andere ist: Bei aller Liebe, es geht um einen Einzigen, der aus der Haft entlassen wurde, und durch den geht sicherlich nicht die Sicherheitslage der Stadt in die Grütze."