Das Thema ist tabu: Kinder, die früh sterben. Im Hamburger Abendblatt spricht eine Mutter über die Trauer nach dem Tod ihrer Zwillinge.
Hamburg. Die Haut schimmert fast durchsichtig. Ihre Köpfchen werden von weißen Mützen gewärmt, die Augen sind noch geschlossen. Die Winzlinge liegen dicht aneinandergekuschelt. Ihre Gesichter sehen entspannt aus, ganz friedlich. Die eineiigen Zwillinge auf dem Foto heißen Lara und Sina.
Zwei Kerzen stehen neben dem Bilderrahmen auf dem Nachttisch und zwei kleine Engel, die sich umarmen. Von den Hebammen im Krankenhaus hat die Mutter dieser beiden je eine Karte bekommen, mit den Fuß- und Handabdrücken ihrer Babys. Geboren und gestorben am 13. Mai. 510 Gramm leicht und gerade einmal 29 Zentimeter lang, gerade so groß wie ein DIN-A4-Blatt. Die Mädchen kamen in der 23. Schwangerschaftswoche zur Welt. Zu früh, um zu leben.
Sieben Monate ist das jetzt her. Das grün gestrichene Kinderzimmer, das Katja Ehlbeck und ihr Mann Guido (45) eingerichtet hatten, ist so geblieben, wie es war, als sie ins Krankenhaus kam. Katja Ehlbeck hält sich gern in dem Zimmer auf. Die 36-Jährige lächelt viel, auch wenn ihr nicht danach zumute ist, aus Selbstschutz. Nur wenn sie allein ist oder mit ihrem Mann, weint sie. Sie wirkt gefasst, spricht ruhig und klar, steht mitten im Raum. "Meine Schwangerschaft verlief problemlos", sagt sie.
Bis zu jenem Morgen, als sie ein Ziehen im Unterleib spürt. Sie ist kaufmännische Angestellte, erst nach Feierabend geht sie zum Frauenarzt. Der Wehenschreiber zeigt keine Auffälligkeiten. Der Muttermund ist geschlossen. Am selben Abend bekommt Katja Ehlbeck Blutungen und Wehen. Ihr Mann fährt sie ins nächstgelegene Krankenhaus nach Pinneberg. Das ist auf Frühchen nicht eingestellt. Mit Blaulicht wird sie in die Klinik nach Altona gebracht, die darauf spezialisiert ist. Dort versuchen die Ärzte 30 Stunden lang, die Wehen zu stoppen, vergeblich. Katja Ehlbeck muss ihre Mädchen zur Welt bringen. Zum Schreien fehlt ihnen die Kraft. "Es war nur ein leises Quieken zu hören", sagt Katja Ehlbeck. Die Lungen sind noch nicht ausgereift. Die Zwillinge werden sofort auf die Intensivstation gebracht. Die liegt gleich neben dem Kreißsaal, nur ein paar Schritte entfernt. Zu weit für Lara. Sie hört noch im Kreißsaal auf zu atmen. Die Mädchen werden trotzdem weiter mit Sauerstoff versorgt, halten zwei Stunden durch. "Dann haben wir sie gehen lassen müssen", sagt Katja Ehlbeck. Eine Hebamme brachte die toten Kinder zu Katja und Guido Ehlbeck.
Den meisten Eltern hilft ein bewusster Abschied. Hebammen und Ärzte empfehlen, das tote Kind noch einmal zu sehen und zu berühren. Das ist der Moment des Kennenlernens und des Abschieds.
Lara und Sina sind nur zwei von 684 926 Kindern, die 2008 geboren wurden. Davon kamen 2412 tot zur Welt.
Kaum jemand spricht darüber. "Das ist eines der letzten gesellschaftlichen Tabuthemen", sagt Frauke Lippens. Sie ist Leiterin der Hebammenpraxis Jarrestraße. "Die Menschen meinen, sie könnten alles kontrollieren. Doch das ist eines der letzten Dinge, die nicht planbar sind. Sie glauben, jetzt, wenn sie das Studium abgeschlossen haben, beruflich angekommen sind, ein Haus gebaut haben, müsste sich auch der Kinderwunsch erfüllen. Wenn es schiefgeht, ist das ein Schock." Die 54-Jährige arbeitet seit 1982 als freiberufliche Hebamme in Hamburg. Nach vielen Jahren als Beleg- und Hausgeburtenhebamme liegen ihre Schwerpunkte heute in der Schwangerenvorsorge, Kursen zur Geburtsvorbereitung, Babypflege und Rückbildung sowie in der Fortbildung von Kolleginnen. Seit drei Jahren bietet sie auch Rückbildungskurse für verwaiste Mütter an. "Ein Baby stirbt in der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt - für betroffene Frauen kann es schwer vorstellbar sein, mit glücklichen Müttern zusammen Rückbildungsgymnastik zu machen", sagt sie.
Schwangerschaft wird heute anders erlebt als noch vor ein paar Jahren. "Dank Ultraschall können sich Eltern schon sehr früh ein Bild von dem Kind machen", sagt Lippens. Zudem erscheint es auf dem Bildschirm wesentlich größer, als es ist. Das Erleben von Schwangerschaft hat sich durch den technischen Fortschritt verändert. Ein Grund, warum auch um immer jüngere Babys getrauert wird. Noch vor ein paar Jahren sprach man von "Fehlgeburten" und entsorgte Föten mit dem Organmüll. Doch inzwischen gehen die Krankenhäuser mit Betroffenen wie den Ehlbecks sensibler um. Nicht nur, weil die Eltern durch den technischen Fortschritt früher eine Beziehung zum Kind herstellen, sondern auch, weil die Bestattungspflicht bei Totgeburten geändert wurde. Während vor ein paar Jahren die gesetzliche Grenze noch bei einem Kilogramm lag, müssen in Hamburg und einigen anderen Bundesländern auch totgeborene Kinder ab 500 Gramm beerdigt werden. "Man hat viel mit uns geredet, aber auch Freiräume gelassen", sagt Katja Ehlbeck. So viele Fragen waren zu klären: Geben wir den Kindern Namen? Wie beerdigen wir sie? Wer soll sie vorher noch sehen?
Viele Krankenhäuser besitzen eine Liste, nach der das Personal vorgeht. Es werden Fotos gemacht und Fußabdrücke. Die Eltern erfahren Adressen, wo sie Hilfe bekommen. Früher wurden die toten Kinder sofort aus dem Kreißsaal getragen, heute dürfen Eltern sie sogar zwei Tage mit nach Hause nehmen. Das hätte Katja Ehlbeck auch getan. Doch davon wusste sie nichts.
Im Krankenhaus bekam sie die Adresse von Lippens' Hebammenpraxis. Besonders das erste Treffen verlief sehr emotional. Lippens begann mit der Rückbildungsgymnastik. In der anschließenden Gesprächsrunde zündeten die Frauen eine Kerze für ihre verstorbenen Kinder an.
In der zweiten Hälfte des Kursus haben sie Erinnerungsstücke ihrer Kinder mitgebracht. Fotos, Karten mit Fußabdrücken und Daten mit dem Gewicht. Ihre Gruppe blieb über das Kursende hinaus bestehen. Außenstehende haben nicht immer Verständnis für ihre Trauer, gerade bei frühen Abgängen. Die Reaktionen des Umfelds reichen von: "Nach vier Monaten muss es ja mal wieder gut sein", "Dann probiert ihr eben so lange, bis es klappt" bis hin zum hilflosen Schweigen. Für die Umwelt war das Kind noch nicht da. Für betroffene Mütter bleibt es ein lebenslanges Thema. Die meisten finden irgendwann einen Weg, mit der Trauer umzugehen. Ihren Verlust werden sie aber nie vergessen. Für Trauer gibt es kein Maß. Sie lässt sich nicht an der Lebensdauer eines Kindes festmachen. Zwei Stunden oder zwei Jahre - für die Eltern macht es keinen Unterschied.
Die Ehlbecks haben ihre Kinder anonym auf einer Wiese begraben lassen. Ihre Kinder sind trotzdem immer bei ihnen. Im Garten der Ehlbecks stehen zwei kleine Bäumchen. Darunter liegen zwei kleine Herzen aus Stein. Darauf steht geschrieben "Liebe" und "Unvergessen". Jeden Abend entzündet Katja Ehlbeck an dieser Stelle eine Kerze.
Rückbildungsgruppen für verwaiste Mütter: Praxis Jarrestr. (Tel. 2 79 66 73), den Hebammen Inna Weible (Tel. 41 49 53 43, Hallerstr.) und Andrea Sturm (Tel. 5 47 97 26, Norderstedt).