Interview mit dem Chef der Arbeitsagentur, Rolf Steil. Die Kurzarbeit schlägt an. Neun Firmen stehen aber wegen Betrugs unter Verdacht.

Hamburg. Trotz der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten erwies sich der Arbeitsmarkt 2009 als vergleichsweise robust. Die zu Jahresbeginn von vielen Experten vorausgesagten Horrorszenarien sind nicht eingetreten. Ein wichtiger Grund: Das Instrument der Kurzarbeit hielt viele Menschen aus der Erwerbslosenstatistik fern. Doch wie geht es 2010 auf dem Arbeitsmarkt - vor allem in Hamburg - weiter? Und welchen beruflichen Weg sollen junge Menschen einschlagen, damit sie nicht arbeitslos werden? Ein Gespräch mit dem Chef der Arbeitsagentur Hamburg, Rolf Steil.

DIE 200 GRÖSSTEN ARBEITGEBER DER STADT BLICKEN IN DIE ZUKUNFT: WER STELLT EIN, WER BAUT JOBS AB?

Abendblatt: Herr Steil, das Krisenjahr 2009 liegt gerade hinter uns, wie sieht die Bilanz der Arbeitsagentur aus?

Rolf Steil: Positiv. Weil in Deutschland die Wirtschafts- und Finanzkrise kaum auf den Arbeitsmarkt durchgeschlagen ist.

Abendblatt: Wie stark ist Hamburg betroffen?

Steil: Zu Beginn des Jahres waren weniger als 70 000 Menschen arbeitslos, derzeit sind es knapp 77.000. Damit hat sich die Quote von unter acht auf 8,4 Prozent erhöht. In der Arbeitslosenversicherung gab es dabei einen Anstieg um 40 Prozent, im Bereich von Hartz IV sind die Zahlen relativ stabil geblieben. Entlassen wurde im Logistikbereich, bei der Zeitarbeit, im Maschinen- und Fahrzeugbau. Auch Mittelständler bauen bei einer schwachen Auftragslage eher Stellen ab, als auf Kurzarbeit auszuweichen.



Abendblatt: Aber die Zahl der Kurzarbeiter hat deutlich zugenommen.

Steil: Hatten wir zu Beginn des Jahres noch 6315 Kurzarbeiter in 222 Betrieben, so haben zum Jahresende 1600 Firmen für 26 000 Mitarbeiter Kurzarbeit angemeldet. Für 14.000 Beschäftigte wird die Leistung derzeit abgerechnet.

Abendblatt: Gab es auch Betrugsfälle, bei denen die Betriebe tatsächlich mehr gearbeitet haben und sich das Kurzarbeitergeld zusätzlich auszahlen ließen?

Steil: Bundesweit haben wir 700 solcher Fälle. In Hamburg sind es neun. Einer davon liegt bei der Staatsanwaltschaft. Schließlich geht es um eine Straftat. Bei einem anderen Betrieb wurde der Betrugsverdacht nicht bestätigt. Verglichen mit den durchschnittlich 1,5 Millionen Kurzarbeitern 2009 in ganz Deutschland handelt es sich hier aber um Einzelfälle.

Abendblatt: Wer ist auf dem Arbeitsmarkt besonders von der Krise betroffen?

Steil: Der Aufschwung hat einige strukturelle Probleme verdeckt. Es gilt aber weiter: Wer keine Ausbildung und kaum Kenntnisse der deutschen Sprache hat, ist heute der Verlierer und wird es auch nach der Krise sein. Künftig werden die Firmen aber die demografische Entwicklung stärker spüren. Es wird immer schwieriger, sich qualifizierte Mitarbeiter zu sichern, weil einfach immer weniger da sind.

Abendblatt: Wird in Hamburg zu wenig ausgebildet?

Steil: Immer noch bildet die Mehrheit der Hamburger Betriebe nicht aus. Darunter sind viele kleine Firmen, bei denen das kaum möglich ist. Aber langjährig eingesessene Unternehmen mit fünf bis zehn Mitarbeitern könnten mehr tun und auch in der Zeitarbeitsbranche sind bei 400 Unternehmen weniger als 100 Ausbildungsplätze nicht viel. Immerhin hat jetzt das Handwerk versprochen, mehr Migranten auszubilden.

Abendblatt: Auch die von der Agentur angebotene Qualifizierung während der Kurzarbeit ist nur schleppend angelaufen.

Steil: Stimmt. Wir sind nicht zufrieden. Denn die Idee ist bestechend, freie Zeit für die Weiterbildung einzusetzen. Bislang wird die Möglichkeit aber nur für 1000 der 26 000 angemeldeten Kurzarbeiter genutzt. Allein 300 von ihnen stellt die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA). Gerade viele kleinere Betriebe schrecken davor zurück, ihre Mitarbeiter für einige Monate für eine solche Maßnahme anzumelden. Sie fürchten, nicht rechtzeitig auf neue Aufträge reagieren zu können.

Abendblatt: Sollten Sozialabgaben während der Kurzarbeit künftig nur dann von der Agentur übernommen werden, wenn qualifiziert wird?

Steil: Eine solche Regelung wäre mir zu eng. Vielmehr könnte es mehr Geld für Mitarbeiter geben, die eine Qualifizierung erfolgreich abschließen oder auch für Firmen, die für ihre Mitarbeiter Qualifizierungen vorsehen.

Abendblatt: Reicht das Geld der Arbeitsagentur, um 2010 Qualifikation, Kurzarbeit und Arbeitslosengeld zu bezahlen?

Steil: Die 17 Millionen Euro Reserve, die 2008 noch in der Kasse waren, sind inzwischen aufgebraucht. Die Bundesregierung hat aber zugesichert, dass 2010 rund 16 Milliarden Euro über Steuern in den Etat der Bundesagentur fließen werden. Damit wird das erwartete Defizit abgedeckt. Die Beiträge brauchen so 2010 nicht erhöht werden.

Abendblatt: Und 2011?

Steil: Das ist schwer zu sagen. Klar ist jedenfalls, dass die Beschäftigung weiter zurückgeht. Bundesweit gab es im Oktober 213 000 Stellen weniger als vor einem Jahr. Nur in Hamburg und Berlin gibt es noch ein geringes Plus gegenüber dem Vorjahr.

Abendblatt: Wir wird sich die Arbeitslosigkeit in Hamburg 2010 entwickeln?

Steil: Es ist gut möglich, dass der große Schub nicht gleich im Januar einsetzt. Die Zunahme könnte sich über einige Monate verteilen. Bis Juni dürften wir in Hamburg 80 000 Arbeitslose haben, bis zum Jahresende mehr als 90 000 als Höchststand. Bundesweit dürfte der Schnitt bei 4,1 Millionen liegen. Hamburg wird die schwache Konjunktur stärker spüren als das gesamte Bundesgebiet, weil die Stadt stärker mit der Weltkonjunktur verbunden ist. Vor allem die Logistik, der Transport über Land, Luft und See, wird sich nicht so rasch erholen. Optimistisch bin ich jedoch für die Betriebe in der Lebensmittelverarbeitung also etwa Röstereien, Öl- und Reismühlen, für Lebensmittelhersteller wie Nestlé oder Bierbrauer.

Abendblatt: Reicht das Personal der Agentur in Hamburg, um die zunehmende Arbeit 2010 zu bewältigen?

Steil: Nein. Wir werden 70 befristete Stellen in Dauerarbeitsplätze umwandeln und die 70 befristeten Jobs wieder neu besetzen. Damit steigt die Zahl der Beschäftigten bei der Agentur in Hamburg auf 1400.

Abendblatt: Was sollten junge Leute heute machen, um möglichst kein Kunde der Agentur zu werden?

Steil: Wer in Mathe, Physik und Chemie gut ist, sollte dies über das Abitur hinaus verfolgen. Hier werden oft Potenziale aus Bequemlichkeit verschenkt. Die IT-Branche ist ebenfalls ein Wachstumsfeld. Wer aber schon in der Schule um gute Noten kämpfen muss, sollte sich für etwas anderes als ein Studium entscheiden.

Abendblatt: Ist die Hamburger Schulreform und die Primarschule, in der alle Kinder sechs Jahre lang gemeinsam unterrichtet werden sollen, der richtige Ansatz für eine bessere Ausbildung?

Steil: Gemeinsames Lernen bringt für alle etwas. Teamfähigkeit ist genauso wichtig wie eine sehr gute Ausbildung. Problematisch an der Reform ist in Hamburg, dass die Wünsche und Befindlichkeiten der Eltern nicht genügend berücksichtig wurden. Letztlich wird es darauf ankommen, wie die Lehrer mit den neuen Möglichkeiten umgehen. Die Stadt sollte mehr Geld für differenzierende Förderung und Lehrerschulungen bereitstellen. Die Befürchtung, dass Kinder durch die Primarschule benachteiligt werden, teile ich nicht.

Rolf Steil (62) steht - bis auf einen kurzen vorübergehenden Wechsel zur Bundesagentur in Nürnberg - seit Mai 2000 an der Spitze der Agentur für Arbeit in Hamburg. Der Arbeitsmarktexperteund Jurist ist mit der Lehrerin Hildegard Steil-Ströhmann verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne und eine Tochter.