Die Beratungsstellen melden allein in diesem Jahr schon rund 200 Fälle von häuslicher Gewalt, und die Zahl steigt.
Hamburg. Einen Mann zu heiraten, den man gar nicht oder nur wenig kennt, mit ihm zusammenzuleben, obwohl man ihn nicht leiden kann - für einen Großteil der Frauen in Deutschland ist das unvorstellbar. Unvorstellbar ist auch, dass es keine Ausnahme ist. In Europa, in Deutschland und auch in Hamburg werden Frauen aus der Türkei, aus Afghanistan, Afrika oder aus dem Iran gegen ihren Willen verheiratet.
Rund 200 Frauen haben sich in diesem Jahr an die beiden behördlichen Beratungsstellen i.bera und LALE in Hamburg gewendet, weil sie von häuslicher Gewalt betroffen sind. In 74 Fällen waren sie von Zwangsheirat bedroht oder litten bereits seit Jahren darunter. "Die Zahlen sind im Vergleich zum letzten Jahr leicht gestiegen", sagt eine I.bera-Mitarbeiterin. "Die Dunkelziffer ist aber vermutlich noch viel höher." Das sei einerseits besorgniserregend. Andererseits sei es ein Zeichen, dass die Beratungs- und Hilfsangebote von den Frauen angenommen würden. Und dass sie sich untereinander über ihre Probleme austauschten. Seit Mitte 2007 fördert die Stadt Hamburg die interkulturelle Beratung für Opfer von häuslicher Gewalt und Zwangsheirat.
"Ausgelöst wurde dieses Engagement durch die Diskussionen um mangelnde Integration, Jugendgewalt und sogenannte Ehrenmorde", sagt Katrin Triebl von der Lawaetz-Stiftung, die für die Sozialbehörde die Situation in Hamburg untersuchte und gerade an einer Studie zu Umfang und Ausmaß von Zwangsverheiratungen in Deutschland arbeitet. "Das Ritual der Zwangsheirat ist nicht auf religiöse Traditionen zurückzuführen. Es kommt in unterschiedlichen sozialen, ethnischen und kulturellen Kontexten überall auf der Welt vor." Eine Zwangsverheiratung liege dann vor, wenn mindestens einer der Eheleute durch die Ausübung von Gewalt oder durch die Drohung zum Eingehen einer Ehe gezwungen wird und mit seiner Weigerung kein Gehör findet oder es nicht wagt, sich zu widersetzen.
Die I.bera-Mitarbeiterin nennt vor allem den befürchteten Macht- und Kontrollverlust der Eltern als Motiv. "Wenn ihre Töchter erwachsen werden, sich hübsch anziehen und ihr Leben nach westlichen Vorstellungen genießen, fürchten die Eltern, dass ihr Kind aus der Familienordnung ausbrechen will. Verbote, Hausarrest und Gewalt werden häufig als Disziplinarmaßnahmen eingesetzt. Die Zwangsheirat ist die letzte Möglichkeit, eine junge Frau wieder gefügig zu machen und sie finanziell versorgt zu wissen."
Auf diese Weise wahrt die Familie ihr Gesicht, aber die betroffenen Mädchen und Frauen führen häufig ein Leben außerhalb der Gesellschaft: Sie leben isoliert, gehen selten einer Beschäftigung nach, sprechen kaum Deutsch. Sie sind abhängig von ihrem meist älteren Ehemann. Sie brechen die Schule oder die Ausbildung ab. Sie leiden unter ständiger Kontrolle, Vergewaltigung, seelischer und körperlicher Gewalt. "Ich habe schon oft erlebt, dass Frauen mit blauen Augen oder gebrochenen Armen zu mir kommen", berichtet die Beraterin. Seit dem 1. Januar 2002 wird häusliche Gewalt strafrechtlich verfolgt.
Die Beratungsstellen klären die Betroffenen in ihrer Muttersprache über ihre Rechte auf, unterstützen sie dabei, neue Wege zu finden, vermitteln psychologische Betreuung, aber auch Anwälte und Unterkünfte, damit die Frauen sich eine neue Existenz aufbauen können. "Besonders für 18- bis 25-jährige Frauen gibt es zu wenige Angebote", kritisiert die I.bera-Mitarbeiterin. Damit Mädchen und Jungen schon frühzeitig aufgeklärt werden, veranstalten die Beratungsstellen Workshops über Partnerschaft, Sexualität, Gewaltformen und Schutzmöglichkeiten an Schulen. Ihr Motto: "Es gibt immer einen Ausweg."