In WG-Marnier versammeln sich immer mehr junge Menschen vor Großbildleinwänden, um eine der beliebtesten TV-Sendungen zu sehen.

Sonntag, 20 Uhr. Rund 60 junge Menschen wuseln durch die schummerig beleuchtete Kneipe Grüner Jäger, um den besten Platz zu ergattern. Heute Abend liegt dieser nicht etwa an der Theke, sondern möglichst dicht vor den zwei Leinwänden. Denn kollektiv in WG-Manier den "Tatort"-Kommissaren Thiel, Casstorff, Ballauf & Co. dabei zuzuschauen, wie sie den Bösewichten auf die Schliche kommen, ist bereits seit einigen Jahren ein angesagter Trend. Auch in der Kneipe Grüner Jäger auf St. Pauli versammeln sich die Hobbydetektive pünktlich zur "Tatort"-Zeit vor den Großbildleinwänden. Während die einen die Kult-Krimiserie in ihren eigenen vier Wänden traditionell mit Schnittchen, Tiefkühlpizza oder Chips zelebrieren, verfolgen die anderen die wöchentliche Mörderjagd in angesagten Bars der Stadt.

Im Grünen Jäger sind die schwarzen, abgewetzten Ledersofas besonders begehrt. Mit einem triumphierenden Lächeln lümmelt sich Ludwig Schiell (19) auf der Couch in der ersten Reihe. "Fast wie zu Hause", schwärmt der junge Mann aus Horn und nimmt einen Schluck Bier aus der Flasche. Warum bleibt er dann nicht gleich in seiner Wohnung? Ist es die Sehnsucht nach dem Gemeinschaftserlebnis? Oder doch die Flucht vor dem Phänomen "Homing", der wohligen Heimeligkeit in der eigenen Wohnung? "Sonntags hat man immer schon den ganzen Tag rumgefaulenzt. Da hat man ein gutes Gewissen, wenn man noch mal rauskommt, sich mit Freunden trifft und das Wochenende gemeinsam ausklingen lässt", sagt Schiell. Stimmt. Hier treffen sich bekannte Gesichter. Kumpels, die sich freundschaftlich auf die Schulter klopfen. Freundinnen, die am selben Glas nippen. Jedoch gilt die Volksweisheit: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Wer zwischen 20.15 und 21.45 Uhr mit seinem Sitznachbarn einen Plausch halten möchte, erntet böse Blicke.

Denn sobald die ersten Takte der Anfangsmelodie des "Tatorts" erklingen, hüllen sich die Krimifans in Schweigen. Die andächtige Stille wird nur vom Klirren der Gläser, dem Brummen der Kaffeemaschine und dem Klicken der Feuerzeuge durchbrochen. Alle Blicke heften auf der Leinwand, verfolgen den kultigen Vorspann: der gehetzte Lauf über nassen Asphalt, die stechend blauen Augen im Fadenkreuz. Seit mehr als 35 Jahren blicken sie sonntags um 20.15 Uhr in die Wohnzimmer von inzwischen durchschnittlich fast acht Millionen Menschen. Seit zweieinhalb Jahren blicken sie auch in den Grünen Jäger. Auch hier ist der ARD-Klassiker, der längst Kultstatus erreicht hat, ein festes Ritual, das den Ausklang des Wochenendes besiegelt.

Plastikstuhllehne an Plastikstuhllehne hocken Studenten, Werber, Handwerker und anderes Jungvolk gefercht aneinander. "Wir sind jedoch nicht mit denjenigen zu vergleichen, die am Sonntagabend nichts Besseres zu tun hätten, als langweilig vor dem Fernseher abzuhängen", sagt eine junge Frau mit pink geschminkten Augen. Ach so. Klar, hier ist alles anders. Kult eben. Laut Stammpublikum sei diese "familiäre Atmosphäre" das Besondere an den gemeinsamen "Tatort"-Abenden. Erzeugt wird diese offenbar durch den engen Körperkontakt. Denn in den Sitzreihen sind die Berührungen von Knien und Ellbögen nicht zu vermeiden.

Lena Katzer (27) stört das nicht. Zufrieden kuschelt sich die 27-Jährige aus St. Georg an ihren Freund, legt ihre in Hello-Kitty-Socken gehüllten Füße über seine Beine. "Wir haben uns extra selber Popcorn zu Hause gemacht", verrät sie und steckt sich eine Handvoll Puffmais in den Mund. Zugegeben: Die Zuschauer im Grünen Jäger lassen den "Tatort" als Event aufleben. Und es lässt sich noch mehr zwischen den Stuhlreihen entdecken: Bei einem Blick in die Gesichter der Besucher drängt sich der Verdacht auf, dass viele von ihnen der Maxime "Dabei sein ist alles" folgen. Statt konzentriert die Verhöre mit den potenziellen Verbrechern zu verfplgen, schenken einige Gäste ganz anderen Dingen ihre Aufmerksamkeit. Ein Mädchen mit langen dunklen Locken, dessen Mimik im Schein ihres Handys zu erkennen ist, tippt eine SMS - eine lange SMS. Mit einem vielsagenden Grinsen im Gesicht. Ihr ist es sichtlich egal, ob der Täter geschnappt wird oder nicht.

Auch ein anderer junger Mann wirkt so, als würde er sich nicht viel aus der Verbrecherjagd im Fernsehen machen. Nur mit Mühe kann er seine Augen von seiner Begleiterin abwenden. Diese zieht nervös an ihrer Zigarette, als hätte sie selbst eine Leiche im Keller. Oder Herzklopfen wegen des Jungen neben ihr.

Die Schlussmelodie ertönt. Innerhalb von Minuten verlassen die Menschen die Kneipe. Kehren zurück auf ihr heimeliges Sofa. Kult genug für einen Abend. Bis zum nächsten Sonntag - an dem man mit gutem Gewissen kollektiv vor der Glotze hängen kann. Oder seinem neuen Schwarm ein Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art präsentiert. Oder einfach nur dabei ist . . .