Diskussion: Nachdenken nach OLG-Beschluß. Gericht ließ krebskranken Täter frei. Harsche Kritik vom Vater der mißbrauchten Frau. Wird zuwenig für die Opfer getan?

Im Fall des am Dienstag freigelassenen todkranken Vergewaltigers A. hat sich der Vater des Opfers zu Wort gemeldet. "Ich habe kein Verständnis für die Entscheidung", sagte er dem Abendblatt. "Meine Tochter leidet bis heute. Sie mußte schon fünfmal operiert werden. Sie kann nicht unter Menschen gehen. Seelisch ist sie tot." Während der Täter entlassen werde, kämpfe seine Tochter erfolglos darum, rückwirkend zur Tat als 100 Prozent schwerbehindert anerkannt zu werden. "Von dem Schmerzensgeld, das ihr zusteht, hat sie nicht einen Cent gesehen. Das zeigt, wie ungleich Opfer und Täter behandelt werden."

Der Hintergrund: 1999 hatte A. in Wandsbek die Frau auf grausame Weise vergewaltigt. Der 32jährige, der als Kind von einem Polizisten adoptiert worden war, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt, wovon er fast sieben abgesessen hat. 2003 wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Im März 2006 wurde er aus dem AK Altona als unheilbar entlassen und in das Zentralkrankenhaus der Untersuchungshaftanstalt verlegt. Kurz zuvor hatte er eine Zahnarzthelferin geheiratet, die er im Krankenhaus kennengelernt hatte. Im Gefängnis konnten ihn Angehörige nur vier Stunden im Monat besuchen. Am Freitag stellte der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gerichtsmediziner Prof. Klaus Püschel fest, daß A. bald sterben werde und wegen seiner körperlichen Schwächung eine Wiederholungstat nicht möglich sei. Das Oberlandesgericht setzte die Haft daraufhin am Dienstag aus - mit dem Verweis auf den grundgesetzlichen Schutz der Menschenwürde, die sich auch auf ein Sterben in Würde beziehe.

Sibylle Ruschmeier vom Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen kritisierte gestern, daß das Opfer nicht vorab über die Entlassung informiert worden sei. "Solche Entscheidungen sind für traumatisierte Opfer regelmäßig angstauslösend und extrem belastend", sagte Ruschmeier. "Zur Wiederherstellung von Würde, Gesundheit und Selbstbestimmung ist eine wesentliche Voraussetzung, daß derart gravierende Entscheidungen den Betroffenen im Vorwege mitgeteilt werden." Zugleich kritisierte Ruschmeier die Berichterstattung, die eine Identifizierung des Opfers für das Umfeld möglich gemacht habe. "Die Diskussion über Sterben von Gewalttätern im Strafvollzug aber muß auf einer anderen Ebene geführt werden, die sich von diesem konkreten Fall löst."

Der Vorsitzende der Opferschutzvereinigung Weißer Ring, Wolfgang Sielaff, sagte: "Der Weiße Ring ist dem Opfer verpflichtet. Das heißt aber nicht, daß wir den Täter ausblenden oder dem Rachegedanken folgen. In diesem Einzelfall gibt es auch bei uns kein einheitliches Meinungsbild." Insgesamt werde das Leid der Opfer meist nicht ausreichend einbezogen. Es stelle sich die Frage, ob jedem klar sei, "daß dieses Opfer sich wieder mit dem Täter konfrontiert fühlt und die Tat erneut durchleidet", so Sielaff.

SPD-Rechtspolitiker Rolf-Dieter Klooß sagte: "Das Gericht wird gewußt haben, daß es eine Diskussion in Gang setzen würde. Auch deshalb ist dies eine mutige Entscheidung. Ich halte sie für richtig, denn das Gericht hat zwischen Menschenwürde und Strafanspruch abgewogen."

Auch GAL-Rechtspolitiker Till Steffen sprach von einer "sehr vernünftigen Entscheiung", die gut abgewogen sei. Eine 100prozentig richtige Entscheidung gebe es in einem so komplexen Fall allerdings nicht. CDU-Rechtsexpertin Viviane Spethmann wollte sich nicht äußern.

Ex-Innensenator Dirk Nockemann (früher Schill-Partei) forderte, man müsse ein "Exempel statuieren". Der Täter hätte in Haft bleiben müssen, bis seine Strafe verbüßt sei, so Nockemann - auch wenn er hinter Gittern sterbe. "Hier geht es auch um Vergeltung."

Andre Bunkowsky, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei, sagte, es komme in solchen Fällen "stark auf die Prognose an". Gerade todkranke Menschen könnten zu "Kurzschlußreaktionen" neigen. Prof. Püschel aber sei in seinem Urteil zu trauen. Wegen der zunehmenden Anordnung von Sicherheitsverwahrung würden viele Täter künftig gar nicht mehr entlassen. "Deswegen müssen wir uns mehr Gedanken über einen würdevollen Tod im Gefängnis machen", so Bunkowsky. "Nicht jeder kann zum Sterben entlassen werden."