Harburg: Den Anstoß gaben vernachlässigte Mädchen und Jungen. “Wir mußten etwas tun“, so die Initiatoren Rainer Micha vom ASB und Schulleiter Hermann Krüger - sie handelten.

"Bitte, sprechen Sie mich nicht an. Gehen Sie weg. Ich will allein sein", Panik schwingt in der Stimme des Zehnjährigen mit, als Jakob Sachs ihn anspricht. Wie gebannt fixiert der Viertkläßler den Bildschirm vor sich. Im Stakkato hämmern die kleinen Finger auf die Tastatur für das Videospiel. Jetzt bloß nicht verlieren. Es ist 10.22 Uhr an einem ganz normalen Wochentag in einem Harburger Kaufhaus. Der Zehnjährige müßte eigentlich in der Schule sein - doch zu verlockend ist das Angebot des Kaufhauses, zumal er sich den begehrten Platz an den Videospielen jetzt am Vormittag nur mit einigen wenigen Kindern teilen muß. Und die schwänzen die Schule - wie er.

Doch Jakob Sachs läßt sich nicht abwimmeln. Geduldig wartet der junge Mann, der zur Zeit ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) absolviert, bis der Zehnjährige letztlich doch verloren hat und das Spiel beenden muß. Dann fragt Sachs den Jungen nach den Gründen, die ihn ins Einkaufszentrum treiben. Und ob er auch in ein Jugendhaus gehen würde, wenn es so etwas in Harburg gäbe. Der Junge sieht ihn einen Moment an, nickt dann stumm.

Ob der Schüler zu den ersten Besuchern gehören wird, die ab Dienstag, 18. April, in das neue Löwenhaus am Schloßmühlendamm 25 kommen, weiß Jakob Sachs natürlich nicht. Doch er wird dort sein und ohne erhobenen Zeigefinger auch auf junge Schulschwänzer wie den Zehnjährigen warten. Denn eine Besonderheit der neuen Einrichtung, die unter anderem vom Verein Kinder helfen Kindern des Hamburger Abendblatts mit zunächst 7000 Euro unterstützt wurde, ist, daß sie bereits ab 10 Uhr geöffnet hat.

"Das", versichert Rainer Micha, Projektleiter von "Sozial macht Schule" beim ASB, "soll die Kinder und Jugendlichen auf keinen Fall dazu verleiten, künftig lieber zu uns als in die Klasse zu gehen. Im Gegenteil: Wir wollen die Schüler, die sich am Vormittag in der Harburger Innenstadt aufhalten und hoffentlich auch bald zu uns kommen, dazu bewegen, wieder zur Schule zu gehen."

Ab 13.30 Uhr haben die Jungen und Mädchen dann aber Gelegenheit, sich kostenfrei mit anderen ein Mittagessen zu kochen. Anschließend gibt es Hausaufgabenhilfe durch ältere Schüler der Grund-, Haupt- und Realschule Bunatwiete/Maretstraße. Die Jugendlichen haben sich freiwillig gemeldet, absolvieren ein Sozialpraktikum, was ihnen auch bei der Suche nach einer Lehrstelle helfen soll. Doch das steht nicht im Vordergrund.

"Ich möchte nicht, daß die Kleinen in diesen Einkaufszentren rumhängen", sagt Hülya Savga. "Hier wird ihnen nichts passieren. Sie kriegen sogar etwas zu essen und können in Ruhe lernen." Die 17jährige Realschülerin weiß, worauf sie sich einläßt, hat selbst sieben Geschwister von denen fünf jünger sind als sie. "Auf die muß ich häufig aufpassen", sagt die Jugendliche, die später einmal als Altenpflegerin arbeiten möchte.

"Mir ist es wichtig, den kleinen Kindern eine Chance zu geben, bevor sie anfangen Mist zu machen", sagt Ömer Sezer (16). "Dazu gehört für mich auch, daß der Nachmittag sinnvoll genutzt wird. Es ist wichtig für die Kleinen, Verantwortung zu übernehmen, damit sie nicht schutzlos draußen rumlaufen."

Verantwortung im Löwenhaus werden auch einige der 25 Mitglieder des Vereins "Lifemakers" übernehmen. Die jungen Muslime haben sich vor gut einem Jahr in Hamburg zusammengeschlossen, um sich gesellschaftlich zu engagieren. Sie helfen in Kleiderkammern oder wie künftig in Harburg bei den Hausaufgaben. "Wir sind bislang 25 Jungen und Mädchen aus unterschiedlichen Ländern", sagt Esra Polat (17). Es können aber auch Menschen mitmachen, die keine Moslems sind.

Den Anstoß für das Löwenhaus, das vor allem ein Anlaufpunkt für Kinder zwischen acht und zwölf Jahren sein soll, hatte im Herbst 2005 eine Aktion gegeben, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem Kinder- und Jugendprojekt zu tun hat. Die Gesundheitskonferenz Harburg hatte in einem Einkaufszentrum einige Stände aufgebaut, um über gesunde Ernährung zu informieren. Das löste einen wahren Ansturm hungriger Schulkinder aus. "Sogar der Tofu ging weg", sagte eine Teilnehmerin verwundert.

Für Peter Micha und den Schulleiter der Bunatwiete/Maretstraße Hermann Krüger war das der Zeitpunkt zu handeln. Doch ihr Konzept beinhaltet neben Hausaufgabenhilfe und kostenfreiem Essen noch einen dritten wichtigen Punkt. Bei gemeinsamen Ausflügen sollen die Kinder Hamburg kennenlernen. "Manche Jungen und Mädchen sind noch nie aus dem Stadtteil Harburg herausgekommen", sagt Micha. Eine Behauptung, die Schulleiter Krüger nur bestätigen kann: "Ich bin einmal mit einer fünften Klasse mit der S-Bahn über die Elbe gefahren. Vier Schüler hätten mit ihren Nasen fast die Scheibe eingedrückt. Die hatten den Fluß noch nie gesehen."

Geöffnet hat das Löwenhaus, Schloßmühlendamm 25, ab dem 18. April an Wochentagen von 10 bis 18 Uhr. Aber das Angebot und die Zeiten sind flexibel, werden dem Bedarf angepaßt.

Weitere Informationen unter: www.sozial-macht-schule.de