SPURENSUCHE. Seit fünf Jahren gibt es kein Lebenszeichen von dem Hamburger Studenten. Einer von 5831 Vermissten in Deutschland.

Hamburg. Auf der Klingel unten an der Haustür des Eppendorfer Altbaus steht noch immer sein Name: "A. Dünkler". Sie träumt manchmal von Andreas, sagt die zierliche Frau mit den grünen Augen. Sie zahlt weiterhin in den Bausparvertrag ihres Sohnes. Sie leistet auch Krankenkassenbeiträge für ihn. Gisela Hinrichs hat fast nichts, was ihm gehörte, weggeworfen. Nicht den großen Kleiderkoffer, in den er Hemden und Sakkos hängte, nicht die Schiffskiste, nicht den selbst geschreinerten Schrank zum Aufklappen. Erst vor einem Vierteljahr hat die 62-Jährige sein Zimmer aufgelöst: "Das war eine ganz schwierige Sache, die ich nach und nach gemacht habe. Immer, wenn ich wieder Kraft hatte, denn das war sein Reich. Da wollte ich nicht eindringen." Vor mehr als fünf Jahren ist Andreas Dünkler spurlos verschwunden. Kein Brief, kein Anruf, kein Zeichen seitdem von ihm. Der junge Mann mit dem dunkelblonden Kurzhaarschnitt ist eine von derzeit 466 Vermisstensachen in Hamburg. Doch das Aktenzeichen 023/1K00954/97 ist wohl der mysteriöseste Fall. Lebt der Mann, der heute 35 Jahre alt wäre, noch? Ist er einer von denen, die "nur mal kurz Zigaretten holen" wollen und sich auf- und davonmachen, um ihren Traum zu verwirklichen, von denen irgendwann eine Postkarte aus der Karibik im Kasten liegt? Oder gehört er zu denen, die längst tot sind, deren Leiche bisher nur noch nicht gefunden wurde? Insgesamt 5831 Vermisstenfälle in Deutschland kennt die zentrale Datei des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden. Spurensuche in der "Vermisstensache Andreas Dünkler". Von draußen schlägt der Regen an jenem 18. Februar 1997 gegen die Fenster der Eppendorfer Wohnung. Der Fußballfan zieht seine dunkelblaue Wachsjacke über, trägt auf dem Kopf wie immer, wenn es zum FC St. Pauli geht, ein blau-graues Käppi. Er tänzelt noch ein wenig über das dunkle Parkett im Flur und macht einen seiner Sprüche: "Und jetzt gehen wir siegen." Dann zieht der 29-Jährige die Wohnungstür hinter sich zu und geht hinunter auf die Erikastraße, in die nasskalte Dunkelheit. Es ist 18.30 Uhr. Zwei Freunde trifft Andreas an jenem Abend, Thorsten Hühn und Thomas Harder. Gemeinsam marschieren sie zum Millerntor, ärgern sich, dass das Bundesligaspiel wegen Sturms schon wieder abgesagt wird. Dann ziehen sie in ihre Kneipe, dem "Irish Rover Pub" an der Steinstraße, den es heute nicht mehr gibt. Andreas hat nur ein Guinness getrunken, wird der Barkeeper später der Mutter des jungen Mannes sagen. Am Hauptbahnhof trennen sich die Wege. Andreas Dünkler steigt mit Thomas Harder noch hinab zur Station der U 1. Der 29-Jährige will bis zur Kellinghusenstraße fahren, Harders Bahn Richtung Wandsbek kommt früher. "Wir haben uns gegen 22 Uhr ganz normal verabschiedet", sagt sein Bekannter. Das Warnsignal ertönt, die Türen schließen sich, Andreas Dünkler bleibt auf dem Bahnsteig zurück. Seit diesem Moment gilt er als vermisst. Am Morgen des 20. Februar um 8.50 Uhr, kaum 36 Stunden nach seinem Verschwinden, erstatten Gisela Hinrichs und ihre Tochter Dorle Vermisstenanzeige auf dem Kommissariat 36 an der Troplowitzstraße in Lokstedt. Sie haben beide in dieser Nacht kaum geschlafen. Die Mutter hatte sich schon am Mittag nach dem Pauli-Spiel gewundert, dass Andreas nicht nach Hause gekommen war, ihre Tochter hatte sie beruhigt: "Vielleicht hat er bei einer Freundin übernachtet und wir wissen nichts davon." "Er kommt schon wieder", wollen sie die Beamten auf der Wache zunächst beruhigen. Doch Mutter und Tochter ahnen: Er kommt nicht wieder. "Andreas ist korrekt. Er hat immer Bescheid gesagt, wenn er wegging." Voller Unruhe fährt Gisela Hinrichs unzählige Male in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden die U-Bahn-Strecke vom Hauptbahnhof nach Hause ab, verteilt Handzettel, klebt Plakate. Die Fahnder beginnen ihre Routinearbeit. Sie durchsuchen sein Zimmer nach versteckten Abschiedsbriefen oder unbekannten Kontakten, sie telefonieren Krankenhäuser ab. Sie überprüfen sein Bankkonto auf ungewöhnliche Bewegungen hin, befragen das "soziale Umfeld", schicken Fernschreiben an alle deutschen Polizeidienststellen, das Bundeskriminalamt. Sie sagen auch: "Vermisstsein ist nicht strafbar. Jeder Erwachsene darf gehen, wohin er will, und ist niemanden zur Rechenschaft verpflichtet." "Wir haben bisher keine konkreten Hinweise auf eine Straftat, und wir haben auch kein konkretes Motiv für sein Verschwinden", meint Rolf Jahn, Erster Kriminalhauptkommissar am Polizeikommissariat 23. Andreas Dünkler, ein nach außen verschlossener, zurückhaltender Junge. Mit wenigen Freunden, dafür guten, wie seine Schwester sagt. Einer, der sich aber in der Familie geradezu redselig gibt, einem die Worte im Mund verdreht und manchmal den Clown spielt. Etwa eine leere Dose in den Kühlschrank stellt, auf dass sie einer aufmacht und seinen handgeschriebenen Zettel darin findet: "Das ist eine leere Dose". Gisela Hinrichs und ihr Mann hatten Andreas mit zehn Jahren als Pflegeeltern aufgenommen, kurz zuvor hatte er seine leiblichen Eltern verloren. Seinen Zivildienst hatte der Abiturient im Behindertenfahrdienst beim Roten Kreuz geleistet. Diplomat wollte er werden, vielleicht Journalist oder auch Jurist, Rechtsanwalt für Insolvenzrecht. Der Weg dahin schien bereitet: Ein "voll befriedigend" im Ersten Staatsexamen, eine Note, von der viele Jurastudenten träumen, das Ende des Referendariats vor Augen, dazu die Zusage einer Kanzlei, ihn zu übernehmen. Nur noch die Klausuren im April schreiben, nur noch die mündliche Prüfung überstehen. In seinem Tagebuch zählt er die Tage wie bei einem Countdown. "Dann beginnt mein Leben", hat er seiner Mutter immer wieder mit leuchtenden Augen gesagt. Ein Satz, über den sie seit dem 18. Februar oft nachgedacht hat. Was nach diesem Abend mit Andreas passiert ist, ist Spekulation. Die Videoüberwachung auf dem U-Bahnsteig hat den Abschied der Freunde nicht aufgezeichnet - der Film wurde gerade gewechselt. Ist Andreas am Hauptbahnhof um Kleingeld angebettelt worden, ist die Situation eskaliert, hat man ihn umgebracht und irgendwo verscharrt, wie Gisela Hinrichs fürchtet? Sie glaubt nicht, dass er von zu Hause geflüchtet ist, "von da, wo ich hingehöre", wie er ihr einmal gesagt habe. Er hatte doch die Gerichtsakten für den Termin am nächsten Tag auf seinem Schreibtisch, zum Essen am Wochenende eingeladen und mit seiner Mutter verabredet, am Tag nach dem Pauli-Spiel einen Küchenschrank abzuholen. Doch warum hat Andreas Dünkler an jenem 18. Februar 600 Mark bei der Deutschen Bank an der Eppendorfer Landstraße abgehoben? Im November 1998, anderthalb Jahre nach seinem Verschwinden, taucht sein Personalausweis plötzlich auf. Per Post wird er in die Erikastraße geschickt, an "Herrn Andreas Dünkler" adressiert. Ein zwölfjähriges Mädchen hat ihn in Schleswig-Holstein gefunden, nahe einem Radweg zwischen Brokdorf und Brunsbüttel am Ufer der Elbe. Hat ihn sein Mörder dort weggeworfen? "Der Ausweis war gebogen, so wie einer, den man in der Hosentasche trägt. Das war überhaupt nicht Andreas Art", sagt seine Mutter. Die Ermittlungen verlaufen auch hier im Sand. Etwa einmal im Monat holt jetzt ein Sachbearbeiter der Kripo die Akte aus einem Stahlschrank des 36er-Reviers, klappt den grauen Ordner mit Korrespondenz, unzähligen Vermerken und Andreas Zahnschema auf und gleicht den Fall mit neuen, unbekannten Leichen ab, die irgendwo gefunden wurden. 30 Jahre lang. Und wenn es für die Ermittler Anhaltspunkte gibt, den Fall aufzuklären, auch noch länger. Andreas für tot erklären zu lassen von einem Gericht, was viele Angehörige in ähnlichen Situationen tun, um etwa die Erbschaftsfragen zu klären, daran hat Gisela Hinrichs nie gedacht. Obwohl sie sich beinahe sicher ist, dass er nicht mehr lebt. "Ich kann keinen Abschied nehmen, bis nicht geklärt ist, was mit ihm ist", sagt die 62-Jährige. "Wenn es jetzt schellen würde, und er stünde vor der Tür, würde ich ihm erst eine scheuern, und ihn dann ganz fest umarmen", sagt Gisela Hinrichs. Und fügt nach einer Sekunde hinzu: "Nein, ich würde ihn nur umarmen."