Geldwerter Müll: Sie sind obdachlos oder auch nicht. Sie streifen durch die Hamburger Innenstadt. Und sie klauben leere Pfandflaschen aus den Abfalleimern. Das bringt mehr als ein Ein-Euro-Job . . .

Hamburg. Vormittags geht er gar nicht erst los. Da haben die Geschäfte noch geschlossen, und die Innenstadt ist leer. Erst, wenn die Menschen alle da sind und mit ihnen ihr Müll, beginnt sein Arbeitstag, so gegen ein Uhr am Mittag. Dann sind die Straßen voll und die Mülltonnen links und rechts, dann ist seine Zeit, dann hat er noch eine Stunde, bis die Stadtreinigung sie leert. Wenn ihr weißer Wagen anrollt, hat Thomas (39), der Sammler, seine erste Runde hinter sich.

"Sammler". So nennt sich das, was Thomas tut. Er sammelt Müll aus Tonnen, Dosen und Flaschen und nur die mit Pfand.

Dabei ist Thomas nicht mal obdachlos. Er hat eine Wohnung auf St. Pauli, 35 Quadratmeter, ein Zimmer, 318 Euro Miete plus Heizung. Trotzdem sammelt er Müll. Zumindest gegen Ende des Monats.

Dann ist sein Geld weg. Er hat es ausgegeben, den Regelsatz nach Hartz IV. 345 Euro. Er raucht und trinkt mal Bier, er kommt nicht aus mit dem Geld, nicht 30 oder 31 Tage lang. Um Tag 20 zieht es ihn also hinaus auf die Straße, dahin, wo bislang nur Obdachlose Rettung fanden, im Abfall. Menschen wie Thomas machen denen am äußersten Rand der Gesellschaft Konkurrenz. Sie kommen sich näher. Sie treffen sich am Müll.

Sammler. Es gibt sie, obdachlos oder eben nicht, in Hamburg in der Innenstadt, in Poppenbüttel am AEZ, an der Wandsbeker Chaussee. Thomas sagt, Sammler zu sein, habe einen Wert. Er ist stolz darauf. Weil die Reviere in der Stadt hart umkämpft sind. Sammler haben Beschäftigung. Da verdient man Geld. Es ist wie ein Beruf, fast eine Schattenwirtschaft seit Dosenpfand und Hartz IV. Ihre Spezies ist unter den Augen der anderen entstanden. Sie sind mit Eis und Einkaufstüte an ihnen vorbeigeschlendert. Kaum jemand bemerkt sie. Dabei gehen Sammler feste Wege, Runden, Zyklen. Sie durchforsten das Revier täglich bis auf sonntags. Sonntags sind zu wenige Leute in der Stadt.

Thomas aus St. Pauli, groß, hager, mit St.-Pauli-Mütze, ist einer der zehn bis 15 Sammler in der Innenstadt. Er hat sein Revier im Bereich der Mönckebergstraße, Kirchenallee, Spitalerstraße, Rathaus. Er ist jung im Geschäft und teilt sich seinen Bereich deshalb mit einem anderen Sammler. Der hat auch eine Wohnung, ein Rentner mit grauem Bart, Typ Akademiker. Die Binnenalster teilt sich niemand. Da ist nur einer Chef. An der Außenalster sind es vier, jeweils am Nord-, Ost-, Süd- und am Westufer. In dieses Revier gehört auch das Cafe Cliff.

Sie bewegen sich wie unsichtbar am Rand. Am Rand von Restaurants, man trinkt Hefeweizen im Sonnenschein. Sie stehen am Rand der vielen Geschäfte mit Telefonen und Turnschuhen, vor den Backshops und Juwelieren. Sie ziehen durch ihre Welt, mit ihren Regeln. Wie im Sog geht es da hindurch. Von Mülltonne zu Mülltonne und den Blick gesenkt. Einer ist angefahren worden. Er hat den Bus nicht kommen sehen.

"Trittin hat Arbeitsplätze geschaffen", sagt auch der "Hinz&Kunzt"-Verkäufer, der seinen Verkaufsplatz am Gerhart-Hauptmann-Platz hat. Er grinst dabei.

Es stimmt, was er sagt. Hätte Thomas das Sammeln nicht, wäre er ohne feste Beschäftigung. Er verdient etwa zwölf Euro am Tag, an guten Tagen mehr. Vor Einführung des Dosenpfands im Januar 2003 waren es in der Innenstadt fünf Euro. Für Glasflaschen, für die es damals schon Geld gab.

Thomas braucht das Geld. Er gönnt sich gern mal was. "Ich bin noch nie mit meinem Geld hingekommen." Er fährt gerne Bus, und dazu braucht er Tickets. Er lädt gerne Freunde ein. Zum Essen. Das geht nicht von Hartz IV. Er wollte früher mal Koch werden. Er hat sich überall beworben. Er liebt Kochen. Es sei das Schönste. Ein Steak, dazu Rotkohl, Kroketten.

Um zu kochen, sammelt er. "Aber ich wühle nicht", sagt Thomas. Er sagt das wieder mit Stolz. In seiner Brusttasche hat er immer ein Taschentuch stecken, mit dem er sich die Finger abwischt. Falls er doch mal etwas abkriegt, Ketchup, Senf oder Burger-Reste.

"Ich sehe nur rein in die Mülleimer und nehme die Flaschen, die obenauf liegen", sagt Thomas. Da ist er ganz genau, pingelig. Sein Rundgang beginnt oben bei Saturn in der Mönckebergstraße. Die erste Runde im Monat sei meistens die schwerste, sagt er. In Abfall kramen. Das geht eigentlich auch gegen seine Ehre. "An den ersten Tonnen der ersten Runde sehe ich mir noch rechts und links über die Schulter." Er weiß, daß sie gucken. Er spürt das, am Anfang, noch.

Die Runde dauert eine Stunde 40 Minuten. Thomas macht drei oder vier am Tag. Jede Runde bringt drei Euro. Je nach Lage. Das ist mehr, als ein Ein-Euro-Job ihm bringt. Vorm Stadion, wenn St. Pauli oder der HSV spielen, macht er zehn Euro in der Stunde. Warum dann den Ein-Euro-Job und ab sechs Uhr morgens in irgendwelchen Parks der Stadt fegen? Wenn es warm ist, trinken die Menschen noch mehr, also kaufen sie mehr Flaschen. Abfall.

Die Innenstadt ist voll davon. Die Stadtreinigung fährt zweimal am Tag und leert aus. Sie nimmt nicht nur den Flaschensammlern ihre Beute, auch den Zeitungssammler und Lebensmittelsammlern, denn die gibt es auch. Zwei, die nur Lebensmittel sammeln, gehören zur Mönckebergstraße. Vom Müll über die Hand in den Mund. Sie sind in der Sammler-Hierarchie ganz unten.

"Wir nehmen nur, was andere zu viel haben", sagt Thomas. Er sieht das pragmatisch. Er hätte auch lieber richtige Arbeit, aber nur als Koch, und eine Freundin, vielleicht Kinder. Aber er will auf das Sammeln nicht verzichten. Nach zwanzig Minuten hat er schon vier Flaschen. Drei Bierflaschen à acht Cent, eine leere Apfelsaftschorle à 15 Cent. 39 Cent Gewinn von Saturn bis zur Kirchenallee. "Am Hauptbahnhof darf ich nicht suchen", sagt Thomas. Dort ist es, wie vor einigen Kaufhäusern, verboten, in die Tonnen zu sehen. Das vertreibt Kundschaft.

Thomas kennt das Sammeln. Es ist irgendwie sein Schicksal. Wenn sein Vater, Fahrzeugmonteur aus Barmbek, ihm als Kind kein Taschengeld geben konnte, hat er gesagt: "Hol dir die leeren Flaschen vom Balkon."

Das tat Thomas. Später machte er seinen Hauptschulabschluß und brach seine Lehre als Schmelzschweißer ab, hat lange von Gelegenheitsjobs gelebt, Treppenhäuser wischen. Thomas wollte doch eigentlich Koch werden. Nur sein Vater ließ ihn nicht.

Die nächste Tonne, an die Thomas in der Spitalerstraße wieder darf, liegt zwischen dem Nike-Super-Store und Karstadt Sport. Wieder Geld. Eine leere Flasche von Aldi, wieder 25 Cent. Thomas öffnet seinen Rucksack, den er auf dem Boden gegen Resttropfen mit Zeitungspapier ausgelegt hat.

"Da kommt der andere, der an meine Eimer geht", sagt Thomas dann. Ein Kollege in gewisser Weise. Statt mit Rucksack ist dieser Mann mit Jutebeutel unterwegs. "Er läßt die Flaschen mit dem ,P' immer drin", sagt Thomas. "Er weiß nicht, wo er sie abgeben soll." Dabei sind diese besonders stabilen PET-Mehrweg-Flaschen 25 Cent wert. Sie bleiben drin. Es ist in Ordnung. "Man spricht ja nicht unter Sammlern."

Man spricht nicht unter Sammlern. Wieder eine dieser Regeln. Sie werfen sich nur Blicke zu, manche schießen sie wie Pfeile durch die Menschenmengen. Gesten, mit denen sie wie Raubtiere ihr Revier verteidigen. Und auch im Großstadtdschungel läuft am Ende dann doch alles wie in freier Wildbahn. "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst", sagt Thomas. Revier hin oder her.

Gegen sechs, wenn die Sonne anfängt unterzugehen und die Schatten sich längs über die Innenstadt legen, ist sein Beutezug beendet. Dann irgendwann rollt der weiße Wagen von der Stadtreinigung wieder an, und die Menschen fahren nach Hause, im Auto, im Bus. Thomas nimmt den 36er Schnellbus. Vorher hat er die Flaschen zu Spar am Rathausmarkt gebracht. Er hat sich seinen Lohn auszahlen lassen. Er kauft sich Tiefkühl-Lasagne und Bier, Feierabendbier.