Kemal Dogan leitet die Redaktion des “Hürriyet“ in St. Georg - und hat einen besonderen Blick auf die Stadt.

Die guten Geschichten finden sich häufig dort, wo man sie nicht unbedingt erwartet, in diesem Fall im Restaurant Öz Urfa am Steindamm. Hier hat Inhaber Behcet Öküzbogan seinen Gästen stolz von seinem neun Jahre alten Sohn Can erzählt. Can ist Mitglied in der HSV-Fußballschule und darf am Donnerstag im HSV-Stadion einen der Schiedsrichter aufs Spielfeld begleiten - was für eine Ehre! Und was für eine schöne Geschichte für die Zeitung, hat sich Kemal Dogan gesagt. "Bring mir doch morgen ein Foto von deinem Sohn in die Redaktion."

Kemal Dogan leitet seit neun Jahren das Hamburger Büro von "Hürriyet", Deutschlands größter türkischer Zeitung - und verspeist regelmäßig sein Börek bei Öz Urfa, schon aus räumlicher Verbundenheit: Am Steindamm, im fünften Stock eines Mietshauses, hat die "Hürriyet" ihren Sitz, gleich neben Rudi's Night Club, nur ein paar Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. In einem Viertel, in dem geschätzte 35 Prozent Migranten leben.

Dogan ist ein kleiner Mann mit dichtem schwarzen Haar und freundlich wirkenden Knopfaugen; 45 Jahre ist er alt, im Dezember wird er 25 Jahre bei "Hürriyet" arbeiten. Der Journalist ist bekannt in St. Georg; einige Leser besuchen ihn und die beiden Kollegen in dem 90 Quadratmeter großen Büro und erzählen aus ihrem Leben. Ganz spontan und ohne vorher ein Anmeldeformular beim Pförtner auszufüllen. In großen Zeitungshäusern nicht denkbar - und vielleicht ein Grund für die ein oder andere verpasste Geschichte.

Behcet Öküzbogan jedenfalls hat am nächsten Tag bei "Hürriyet" geklingelt - und Can lächelte die Leser zwei Tage später von der Seite 13 an. "Wenn ein deutscher Junge ausgewählt worden wäre, hätten wir natürlich nicht berichtet", sagt Dogan - und so banal das klingen mag, bringt es doch gewissermaßen seine Arbeit auf den Punkt: "Hürriyet", was übersetzt "Freiheit" heißt, fängt den Alltag der in Hamburg lebenden Türken ein. Sucht bei Geschichten, über die auch die deutschen Zeitungen berichten, "den türkischen Dreh". Und kümmert sich um die großen und kleinen Belange der Leser.

Kemal Dogan macht dieser Tage Überstunden. Der Grund: das bevorstehende Uefa-Cup-Spiel HSV gegen Galatasaray Istanbul - "ein Fußballfest wie zu EM-Zeiten", sagt Dogan. Für Abdullah Akar ist es "ein Ereignis, auf das wir alle seit Jahren warten". Akar ist der Vereinsvorsitzende des Galatasaray-Fanklubs, der in Hamburg 500 Mitglieder zählt, und hat am Sonntagvormittag zur Versammlung ins Wandsbeker Restaurant Ala Turca geladen. Draußen hat sich grauer Dauerregen breitgemacht, im Ala Turca ist es heiß, voll, gemütlich. Und laut: Aus einer Stereoanlage tönt die Galatasaray-Hymne, Akar schreit ins Mikrofon, begrüßt die rund 100 Anwesenden, freut sich über den Weltfrauentag und darüber, dass so viele Frauen Mitglied im Fanklub sind; man unterhält sich tischübergreifend.

Unter viel Applaus wird die rot-gelbe Vereinsflagge aufgehängt, zur anschließenden Stärkung gibt es Bratkartoffeln und Würstchen, Knoblauchbrot und Cornflakes, dazu starken schwarzen Tee aus bauchigen Gläsern. Höhepunkt ist die Tombola, bei der drei der begehrten Eintrittskarten fürs Stadion verlost werden. Gemeinsam schimpft man über das geringe Kartenkontingent, das der HSV dem Fanklub zur Verfügung gestellt hat, "dabei wollen unsere Mitglieder natürlich alle live dabei sein", sagt Abdullah Akar und rauft sich die Haare. "Tickets für das Spiel nur noch auf dem Schwarzmarkt erhältlich", wird Kemal Dogan am nächsten Tag seinen Text überschreiben.

"Die deutsche Presse sucht man auf einem solchen Termin vergeblich", sagt er, als er vom Rauchen vor der Tür zurückkommt. "Die rücken erst an, wenn sie hier mit Messern aufeinander losgehen." Er sagt das so, dass klar wird: Er macht einen Witz - ein bisschen ernst ist es trotzdem gemeint. Viele türkische Leser finden sich in den deutschen Zeitungen nicht wieder, glaubt er. "Hürriyet" hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen Orientierung zu bieten. Orientierung in einer oftmals fremden Welt. "Wir helfen unseren Lesern, sich hier zurechtzufinden, auch wenn sie die deutsche Sprache nicht sprechen", sagt Dogan, der mit elf Jahren aus Mittelanatolien nach Deutschland gekommen ist. Seit 1974 lebt er in Hittfeld bei Hamburg, "eine weltoffene, tolerante Stadt", findet er - "vor allem, wenn man sie mit einigen Städten in Ostdeutschland vergleicht". Er spricht fließend deutsch, beinahe ohne Akzent.

Fragt man Dogan, was "Hürriyet" von anderen Zeitungen unterscheide, fallen ihm spontan zwei Dinge ein: Man sei "politisch neutral", schließlich sei man "ein Blatt für die Massen" und wolle "alle Schichten" ansprechen. Und: "Hürriyet" ist serviceorientiert, vor allem, wenn es um schwer verständliche Themen wie Bildungspolitik und Rentenreform geht. Wie schwierig sind die Deutschtests für nachziehende Ehepartner? Wie finde ich mich im Rentenreform-Dschungel zurecht? Oder, wichtig im Superwahljahr: Wie stehen die einzelnen Parteien zu den hier lebenden Türken? Nur drei Fragen von vielen, auf die "Hürriyet"-Leser Antworten suchen. Was den Schreibstil der Zeitung angeht, setzt man auf kurze Sätze, eine leicht verständliche Sprache. Jeder schreibt über alles, heißt das Prinzip, nach dem im Hamburger Büro gearbeitet wird. Er sei ein "Allrounder" sagt Dogan über sich, was bedeutet: Er ist nicht nur Chef, er schreibt und fotografiert selbst, beantwortet nebenbei die rund 200 Mails und 60 Anrufe, die täglich bei "Hürriyet" eingehen.

Seine Texte schickt er am Abend in die Europazentrale nach Mörfelden bei Frankfurt. Hier und nicht, wie gemeinhin angenommen, in der Türkei wird die "Hürriyet" produziert; hier werden die Nachrichten gemacht, die die Türken in Deutschland bewegen - rund 26 Seiten gefüllt mit Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur und Klatsch. Dafür fangen sechs Lokalredaktionen und viele freie Mitarbeiter die Befindlichkeiten der Türken im Lande ein.

Zurück zum Fußball. Der dominiert seit mehr als einer Woche die Arbeitstage von Kemal Dogan. Er schleicht sich sogar dort ein, wo er eigentlich nichts verloren hat. So zum Beispiel, als der türkischstämmige Schauspieler Mehmet Kurtulus am vergangenen Donnerstag in der Stadt war, um der Presse seinen neuen "Tatort" vorzustellen. Dogan mochte den Film, doch geredet hat er mit Galatasaray-Anhänger Kurtulus, den er noch aus der Zeit, als Kurtulus in Hamburg lebte, kennt, beinahe nur über das bevorstehende Spiel.

Ganzseitig druckte die Zeitung ein Interview, das Dogan mit dem HSV-Sportchef Dietmar Beiersdorfer geführt hatte. Der Sportchef interessierte ihn dabei weniger, ihm ging es vor allem um dessen Ehefrau Olcay. Die ist türkischer Abstammung, in ihrer Familie hält man zu Galatasaray. Ein weiteres Beispiel für den sogenannten "türkischen Dreh", ohne den Geschichten keine "Hürriyet"-Geschichten sind.

Wenn sich die Aufregung um das Fußballspiel wieder gelegt hat, wenn die türkische Mannschaft nach Istanbul abgereist ist, wenn der Alltag in die Arbeitstage zurückgekehrt ist, dann wird sich Kemal Dogan wieder Zeit für ein Börek in seinen Stammlokalen am Steindamm nehmen. Weil er weiß: Die guten Geschichten, die findet man oft dort, wo man sie nicht vermutet.


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