Es war der 12. März 1976. Ein kalter Tag, in Hamburg hatte es geschneit, und der Hauptdarsteller dieser Geschichte ist sich sicher, in der Nacht...
Es war der 12. März 1976. Ein kalter Tag, in Hamburg hatte es geschneit, und der Hauptdarsteller dieser Geschichte ist sich sicher, in der Nacht noch eine Schneeballschlacht mit Sabine und Marina, zwei Soziologiestudentinnen, gemacht zu haben. Im Onkel Pö am Lehmweg stand ein Konzert mit dem amerikanischen Jazz-Sänger Al Jarreau auf dem Programm. Und der Sohn eines Priesters aus Milwaukee, der an diesem Tag seinen 36. Geburtstag feierte, wird am wenigsten damit gerechnet haben, dass sein erster Auftritt vor "Leuten, deren Heimatsprache nicht Englisch war" in diesem verräucherten Musikschuppen in Eppendorf der Start zu einer sagenhaften Weltkarriere werden sollte.
Onkel Pös Carnegie Hall, geführt von dem ehemaligen Seemann Peter Marxen, war damals das unumstrittene Zentrum der Hamburger Musikszene. Das ursprüngliche "Pö" hatte im Dezember 1969 am Mittelweg in Pöseldorf aufgemacht, 1971 erfolgte der Umzug zum Lehmweg. Nach einer durchzechten Silvesternacht 1985 schloss einer der berühmtesten Musikklubs der Welt ziemlich sang- und klanglos.
Hier startete Otto seine Blödel-karriere, hier haute Gottfried Böttger in die Tasten. Inga Rumpf und Vince Weber, Achim Reichel, die Rock-Skiffleband Leinemann - im Pö wurde regelmäßig bis in den Morgen musiziert. Und getrunken. Es gab Bier und Pineau, ein Traubenmost, dessen Gärung mit Cognac gestoppt wurde. Böttger erinnert sich noch an einen "Olaf Weitzel oder so ähnlich, der mit jedem wettete, dass er eine Flasche Pineau in fünf Sekunden austrinken konnte". Und? "Er gewann jedes Mal, weil er den schweren Wein von der Flasche in ein großes Bierglas umkippte und dieses dann in der Tat in fünf Sekunden leerte."
Udo Lindenberg machte den urigen Laden dann mit der Textzeile "Bei Onkel Pö spielt 'ne Rentnerband seit 20 Jahren Dixieland" bundesweit berühmt. Gottfried Böttger und Lonzo Westphal, der "Teufelsgeiger", hatten die Szene zuvor musikalisch verewigt - mit einem Text von Hans Scheibner: "Hamburg 75, Jungs war das gemütlich. Da schien noch ein richtiger Mond in der Nacht, die Musik haben wir noch mit der Hand gemacht."
Für Al Jarreau galt das nicht. Der Sänger war als Stimmakrobat angekündigt worden, aber was die Besucher im Pö dann erlebten, war eine musikalische Sensation. So etwas hatte es bis dahin nicht gegeben.
Michael Naura war damals Leiter der Jazz-Redaktion des NDR und Augen- sowie vielmehr noch Ohrenzeuge. "Dieser Mann hat mit seiner göttlichen Stimme das Publikum vom ersten Moment an gefesselt. Wir waren wie erstarrt. Ich bekam den Mund gar nicht zu, als er seine Stimme zum Beispiel wie ein Saxofon klingen ließ. Er sang die schwierigsten Passagen und hat auch niemals nur einen einzigen Ton danebengesetzt." Naura ließ daraufhin einen Übertragungswagen vor das Onkel Pö fahren, um das Konzert aufzuzeichnen. Heute sagt Al Jarreau: "Was er gemacht hat, war sehr wichtig. Es war der Beginn meiner internationalen Karriere. Jeder Kritiker, ob im Radio oder in der Zeitung, der damals über mich berichtete, hat das Fundament für meine Karriere gelegt. Auch jeder, der damals ins Onkel Pö kam, um mich zu sehen und mir zuzuhören, war sehr wichtig für mich. Es begann alles mitten in Hamburg."
Was Naura aber fast noch mehr faszinierte, war die unglaubliche Ausstrahlung des farbigen Amerikaners: "Er war überhaupt nicht so abgezockt wie so viele andere US-Musiker. Es war, als wenn er selbst von seinen Fähigkeiten noch nicht so recht überzeugt war. Er hatte eine Liebenswürdigkeit und blies sich nicht auf, sondern kam eher ganz bescheiden daher."
Gottfried Böttger hat Jarreau damals vom Hotel Atlantic abgeholt und erlebte etwas, dass es so anschließend in Hamburg nie wieder gegeben hat. "Am ersten Abend waren vielleicht 40, 50 Leute im Pö. Keiner kannte den Sänger aus den USA, der ja bis dahin auch nur in amerikanischen Jazz-Klubs einen gewissen Bekanntheitsgrad hatte", erzählt Böttger. Die außergewöhnliche Sangeskunst sprach sich blitzartig herum. Gottfried Böttger: "Am zweiten Abend war das Pö mit 200 Leuten gerammelt voll." Legendär war jedoch der dritte Abend. "Als wir Al Jarreau vom Hotel abgeholt hatten und zum Pö kamen, stand da draußen eine unglaubliche Menschenschlange bis zum Eppendorfer Baum", erinnert sich Böttger.
"Und dann sagte Al Jarreau plötzlich: Ich will aber, dass mich heute Abend alle hören können." Also entschloss er sich spontan dazu, jeweils Sets von 20 bis 25 Minuten mit sowohl eigenen Kompositionen als auch Klassikern von Elton John, James Taylor oder Carly Simon zu spielen, und bat dann die Gäste, das Pö zu verlassen, um Platz für die Nächsten zu machen.
Das funktionierte in der Tat, und Böttger schätzt, dass aufgrund dieser einmaligen Aktion an diesem kalten März-Abend rund 900 Leute in den Genuss des Jarreau-Konzerts, das "bis nachts um halb drei" gedauert hat, gekommen sind. Böttger ist noch heute fasziniert von dem Sänger, der "absolut offen und sehr neugierig auf die Stadt war und überhaupt keine Starallüren hatte".
Und so erinnert sich Al Jarreau noch sehr genau an die ausgelassene Schneeballschlacht von vor fast 33 Jahren. Er kennt auch noch die Nachnamen von Sabine und Marina, sogar die neuen, die sie annahmen, nachdem sie geheiratet haben. Aber die - da ist er ganz Gentleman - behält er natürlich für sich.
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(Stichwort: "Konzerte").