Künftig soll mit Fallpauschalen abgerechnet werden. Chefarzt befürchtet Nachteile für Patienten und Kassen.
Das Boberger Querschnittgelähmten-Zentrum (QZ) ist die größte und renommierteste Einrichtung ihrer Art in Deutschland. Jetzt ist die Qualität der Versorgung durch die Gesundheitsreform bedroht: In Zukunft soll die hoch qualifizierte Behandlung der Patienten über Fallpauschalen abgerechnet werden. Die berücksichtigen aber weder die speziellen Leistungen noch die tatsächliche Verweildauer der Patienten im Krankenhaus. "Spitzenmedizin zum Pauschalpreis anzubieten ist nicht möglich", sagt Chefarzt Roland Thietje (44). Trete das geplante Gesetz in Kraft, müsste die Aufnahme von Patienten abgelehnt und die Behandlungszeit verkürzt werden. Beides wäre zum Nachteil der Patienten und auch der Krankenkassen, die hohe Kosten durch später auftretende Komplikationen zu erwarten hätten. "Wird durch verfrühte Entlassung das Rehabilitationsziel nicht erreicht, hat das langfristig erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen", so Thietje. Die Patienten könnten keinen Beruf mehr aufnehmen, würden Frührentner oder müssten sogar ins Pflegeheim.
Lillemor Köper (24) ist froh, dass die geplante Veränderung noch nicht umgesetzt wurde. "Dann wäre ich sechs Wochen nach meinem Unfall entlassen worden - zu einer Zeit, als ich noch total hilflos war. Niemals hätte ich dann diese Selbstständigkeit erreicht", sagt die Bergedorferin. Vor vier Monaten wurde sie von einem Bus angefahren - sie musste mit dem Fahrrad ausweichen, als sich bei einem parkenden Auto die Tür öffnete. Diagnose: Querschnittlähmung ab dem siebten Brustwirbel abwärts. Heute, kurz nach ihrer Entlassung, ist Lillemor Köper fast ebenso selbstständig wie vor dem Unfall. Sie hat ihr Studium wieder aufgenommen - Mathe und Sport -, und bewegt sich mit ihrem Rollstuhl behände durch die ganze Stadt.
"Es ist wichtig, den Patienten genug Zeit zur Rehabilitation zu geben", sagt Physiotherapeutin Citlali Glocke (35), die seit zwölf Jahren in Boberg arbeitet. "In den ersten Wochen müssen sie erst mal ihr Schicksal verkraften." Die Psyche muss sich stabilisieren, sie müssen mit den Beeinträchtigungen von Blase und Darm zurechtkommen - erst dann wird mit einer intensiven körperlichen Reha begonnen. Dabei lernen die Patienten, all ihre verbliebenen körperlichen Fähigkeiten auszuschöpfen. Zusätzlich werden sie im Umgang mit dem Rollstuhl trainiert, psychologisch und medizinisch betreut - und fit für ihr neues Leben.
85 Prozent von Thietjes Patienten führen nach ihrer Entlassung ein weitgehend selbstständiges Leben, ein Teil von ihnen kehrt sogar in den Beruf zurück. Genau das liegt im Interesse der Berufsgenossenschaften, die das Unfallkrankenhaus Boberg gegründet haben - 30 Prozent der Patienten sind bei ihnen versichert. "Mit bestmöglichen Reha-Maßnahmen soll erreicht werden, dass die Patienten schnell wieder in den Beruf zurückkehren", so Thietje. Doch auch den gesetzlich versicherten Patienten steht das Haus offen - ihr Anteil im Zentrum beträgt 70 Prozent. Ihre Behandlung kostet hier zwar mehr als in anderen Einrichtungen Doch sie profitieren auch von dem hochspezialisierten Team aus Ärzten, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Psychologen, einem Pastor und 180 Pflegekräften. Jeder, der in dem 120-Betten-Haus anfängt, wird mit Aus- und Fortbildungen für den qualifizierten Umgang mit Querschnittgelähmten fit gemacht.
Jährlich nimmt das Zentrum 200 frisch Querschnittgelähmte auf, zusätzlich kommen 450 Patienten wegen Komplikationen zur Wiederaufnahme. Die Warteliste für Deutschlands einzige Station für beatmungspflichtige Hochquerschnittgelähmte ist lang. Hier liegt Arnold F., der nach einem Verkehrsunfall im Juni 2008 aus Bremen eingeflogen wurde. Er kann nur den Kopf und die rechte Hand ein bisschen bewegen und wird sein Leben lang auf das Beatmungsgerät angewiesen sein. Im April wird Arnold nach Hause entlassen. Roland Thietje und seine Mitarbeiter haben dafür gesorgt, dass er eine entsprechende Wohnung bekommt und ein Pflegeteam für ihn bereitsteht, das eigens in Boberg für den Umgang mit ihm geschult wurde. Mit einer Fallpauschale wäre das nicht finanzierbar gewesen. "Unser Motto lautet: Heilen und helfen mit allen geeigneten Mitteln", sagt Thietje.
Im Februar reist der Geschäftsführer des Unfallkrankenhauses Boberg, Hubert Erhard, zu Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Er will dafür plädieren, dass das Querschnittgelähmten-Zentrum seinen besonderen Status behält. Damit die Patienten weiterhin nach dem bobergschen Motto behandelt werden können.