Schon rund 600 000 Patienten pro Jahr in Klinikambulanzen. Mediziner machen “Unzulänglichkeiten der kassenärztlichen Vergütung“ verantwortlich
Hamburg. Die Zentralen Notaufnahmen (ZNA) stehen in Hamburg vor massiven Herausforderungen: Bereits im Jahr 2009 registrierten die 18 Kliniken, die eine uneingeschränkte Not- und Unfallversorgung bieten, sowie drei weitere Häuser, die nicht jede Behandlung durchführen können, rund 570 000 Patienten. Und die Tendenz ist steigend, die Qualität der medizinischen Versorgung scheint gefährdet.
Dr. Michael Wünning, Sprecher der Hamburger Chefärzte interdisziplinärer Notaufnahmen und leitender Arzt des Zentrums für Notfall- und Akutmedizin am Marienkrankenhaus, sagt: "Die Krankenhäuser sind sich ihrer immer wichtiger werdenden Portalrolle der Notfallaufnahmen bewusst und auch darüber, dass sie zunehmend mit dem Problem des 'Overcrowding' konfrontiert werden." Kurz: Die Notaufnahmen sind überfüllt, weil sie immer häufiger medizinische Dienstleistungen erfüllen müssen, die eigentlich zum Aufgabenbereich der niedergelassenen Haus- und Fachärzte gehören.
"Dass die Patientenzahlen in den Notaufnahmen der Hamburger Krankenhäuser von Jahr zu Jahr ansteigen, ist ein Zeichen dafür, dass die Patienten den Krankenhäusern im Notfall vertrauen", sagt Dr. Claudia Brase, Geschäftsführerin der Hamburger Krankenhausgesellschaft (HKG), dem Dachverband der Krankenhausträger in Hamburg. Insgesamt 35 öffentliche, freigemeinnützige und private Kliniken in und um Hamburg gehören dazu.
Dr. Peter Petersen, Chefarzt der ZNA im Klinikum Frankfurt-Hoechst und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA e. V), macht für die inflationäre Inanspruchnahme von Notfallambulanzen vor allem auch die "Unzulänglichkeiten des kassenärztlichen Vergütungssystems" verantwortlich. "Warum soll ein Arzt aufgrund der Kopfpauschale und des Praxisbudgets kostenlose Überstunden leisten und häufig dafür auch noch mit finanziellen Abschlägen bestraft werden? Wenn ein Patient erfolglos versucht, vier Wochen vor Ende des Abrechnungsquartals einen Arzttermin zu bekommen, dann bleibt bei akuten Beschwerden oft doch nur die Notaufnahme", sagt Petersen.
Denn ein Krankenhaus ist schließlich dazu verpflichtet, jeden Notfallpatienten, auch alle "Selbsteinweiser", zu behandeln. "Wenn keine Notwendigkeit besteht, den Patienten stationär aufzunehmen, aber weitergehende Folgeuntersuchungen oder eine Fortsetzung der Behandlung notwendig werden, wird der Patient nach der Untersuchung und Erstbehandlung an den niedergelassenen Hausarzt oder Facharzt weiterverwiesen", sagt Claudia Brase. 2011 wurde jeder dritte Hamburger Notfallpatient stationär aufgenommen.
Nach Einschätzung der HKG ist die Zahl der Notaufnahmen und Notfallambulanzen ausreichend, um die Hamburger Bevölkerung sowie das Umland der Metropolregion zu versorgen. Und nach Prognosen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung müssten bis zum Jahr 2020 zwar auch 74 000 Facharztstellen wieder besetzt werden (Fachärzte fehlen bereits in vielen, vor allem ländlichen Regionen), doch "Hamburg ist aufgrund seines attraktiven Standorts und seiner stark spezialisierten medizinischen Zentren von einem Fachärztemangel verschont", sagt Claudia Brase. Michael Wünning glaubt, dass man um eine Professionalisierung, um den "Facharzt für Notfallmedizin", nicht herumkommen werde. "Es geht um die Schnelligkeit und die Verlässlichkeit der Initialdiagnostik sowie die erforderlichen Erstmaßnahmen, vor allem bei diffusen Krankheitsbildern wie Schmerzen im Unterleib: Handelt es sich um einen 'chirurgischen Bauch' oder um einen 'internistischen Bauch' oder - bei einer Patientin - eher doch um ein gynäkologisches Problem?"
Die DGINA, der inzwischen über 600 Chef- und leitende Ärzte angehören, fordert schon seit Jahren ein "standardisiertes Dringlichkeitsverfahren": "Auch wir Hamburger Chefärzte setzen uns regelmäßig zusammen, tauschen unsere Erfahrungen aus und versuchen, die Situation zu optimieren", sagt Wünning. "In vielen Zentralen Notaufnahmen haben deshalb Strukturen Einzug gehalten, die sich stark am angelsächsischen Vorbild orientieren." Ziel sei es, dass kein Patient ohne eine zuverlässige medizinische Einschätzung seiner Behandlungsdringlichkeit in das Wartezimmer oder die Notaufnahme gelangt, und bei einer tatsächlichen Indikation nach höchstens einer Viertelstunde Kontakt zum Facharzt bekommt.
In Hamburg gilt die ZNA der Asklepios-Klinik Altona als zukunftsweisendes Beispiel für moderne Notfallmedizin. Die komplizierte Arbeit wird dort durch ein interdisziplinäres Team von Ärzten und Pflegekräften geleistet. "Eine optimal strukturierte Versorgung zahlt sich medizinisch und auch wirtschaftlich aus", sagte Dr. Barbara Hogan, Chefärztin der Altonaer ZNA und im Vorstand der DGINA, bereits zur Eröffnung des Neubaus.
Doch diese Symptom-orientierte, standardisierte, schnelle und zuverlässige Notfallmedizin erfordert auch stets eine besondere räumliche Ausstattung der Notfallambulanzen sowie speziell geschultes Personal. Die Frage lautet: Wer soll das bezahlen?
Die rund 25 Euro Vergütung, die ein Krankenhaus für eine ambulante Notfallversorgung erhält, sei "nicht kostendeckend", meint Claudia Brase. "Oft sind weitere Untersuchungen notwendig, die deutlich mehr Kosten verursachen, als mit der Vergütung abgegolten sind. Die ambulante Notfallvergütung müsste sich mehr an den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen der Krankenhäuser orientieren." Der Sprecher der Hamburger Chefärzte interdisziplinärer Notaufnahmen fordert außerdem, die aktuellen Anforderungen an die Notfallversorgung zu überprüfen: "Hierbei stellt sich die Frage, ob eine Stärkung des ambulanten Sektors oder vermehrte finanzielle Investitionen in die klinische Notfallmedizin zielführend sind", sagt Wünning. Darüber hinaus müsse man auch bewerten, wie sich aufgrund der demografischen Daten die Zusammensetzung der Patientenströme geändert habe. "Die Patienten werden immer älter und haben dementsprechend immer Erkrankungen, die mehrere Ursachen haben und die auch bei einem Notfall berücksichtigt werden müssen. Die Notfallmedizin in Hamburg ist sehr gut, doch sie muss stetig an die sich ändernden Ansprüche angepasst werden."
Dazu zähle auch der veränderte zeitliche Lebensrhythmus, oder wie es Dr. Sönke Siefert, Chefarzt der ZNA des katholischen Kinderkrankenhauses Wilhelmstift, ausdrückt: "Vielleicht müssen sich die niedergelassenen Ärzte zukünftig mehr an den Öffnungszeiten der Supermärkte orientieren ..."
Michael Wünning verlangt bezüglich der Notfallmedizin eine Intensivierung des Dialogs zwischen der Politik, den Krankenkassen und der Ärzteschaft vor, "jedoch wirklich im Sinne der Patienten und der medizinischen Abteilungen". Von den Patienten wiederum wünscht er "mehr Dialogbereitschaft und Verständnis", Letzteres für die manchmal doch extrem langen Wartezeiten: "Häufig bekommen es Patienten mit weniger dringenden Erkrankungen im Warteraum gar nicht mit, wenn schwer Erkrankte mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, die einer sofortigen und aufwendigen Behandlung bedürfen."
Ein Zustrom von Patienten sei jedoch nicht planbar, sagt Claudia Brase. Viele Kliniken hätten jedoch gute Erfahrungen damit gemacht, die Transparenz für die Patienten über ihre individuelle Wartezeit und den Fortgang ihrer jeweiligen Behandlung zu erhöhen. "Dies führt zu mehr Gelassenheit bei den Patienten, wenn sie bei leichteren Erkrankungen länger warten müssen."