Die Arbeitszeit müsse generell sogar noch länger werden, so die Kanzlerin. Vor der Rede gab sie gutgelaunt eine Autogrammstunde.
Mitte. Die Kanzlerin hat gute Laune. Mit einem Lächeln steigt Angela Merkel vor dem Hamburger Congress Center (CCH) aus dem Wagen und lässt sich ein paar Minuten Zeit, um Autogramme zu geben. „Vielen Dank, dass sie gekommen sind“, ruft eine Männerstimme aus dem Pulk von Fans. „Gern!“ lautet die kurze Antwort. Dann verschwindet die Kanzlerin im CCH, um wenig später im Saal vor mehreren Hundert Gästen des 10. Deutschen Seniorentages zu reden.
Gut eine Stunde Zeit hat Angela Merkel sich genommen. Das ist in so bewegten Tagen wie diesen eine Menge. Doch die Kanzlerin weiß um den Einfluss der Senioren. Derzeit leben in Deutschland rund 17 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Deren Zahl dürfte in den kommenden Jahren rasch steigen. Experten schätzen, dass im Jahr 2020 gut ein Drittel der etwa 80 Millionen Deutschen zur Generation 65+ gehören wird. Hinzu kommt, dass die Menschen nicht nur länger leben, sondern länger vital sein werden – eine Generation also, die sich immer weniger aufs Altenteil schieben lassen will.
Nachdem Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Besuch des Seniorentages für mehr Flexibilität beim Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand geworben hatte, lässt die „Antwort“ der Kanzlerin nicht lange auf sich warten. Zunächst macht die CDU-Vorsitzende deutlich, dass die häufigen Frühverrentungen in der jüngeren Vergangenheit nicht der Weisheit letzter Schluss gewesen seien. Es habe eine Zeit gegeben, in der „jung sein“ viel gegolten habe, Erfahrung und Überblick hingegen kaum etwas Wert gewesen seien. „Sie aber gehören dazu“, ruft die Kanzlerin den Zuhörern zu und erntet dafür kräftigen Beifall.
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Dann verteidigt Angela Merkel die Rente mit 67 Jahren. Sie habe nichts gegen ein flexibleres Renteneintrittsalter, sagt sie und fügt hinzu: „Aber wir kommen nicht umhin, dass die Lebensarbeitszeit nicht kürzer werden kann, sondern ganz graduell auch länger werden muss.“ Nur so könne angesichts sinkender Geburtenrate gesichert werden, dass jene, die bereits jetzt in Rente gingen und von der Heraufsetzung gar nicht betroffen seien, „auch morgen noch eine gesicherte Rente bekommen“. Der Bundespräsident hatte dagegen ein flexibles Renteneintrittsalter in beide Richtungen gefordert.
Den Gewerkschaften ist Merkel mit dieser Position ein Dorn im Auge. Ein paar Stunden zuvor hatte der Vorsitzende der Baugewerkschaft, Klaus Wiesehügel, die 2007 von CDU und SPD beschlossene schrittweise Heraufsetzung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre wortstark kritisiert. Das sei eine „riesige Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber“, die möglichst hohe Beiträge zu den Sozialkassen sparen und noch mehr Gewinne einstreichen wollten. Die Folge seien Endsolidarisierung und wachsende Altersarmut.
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Auch in Merkels Rede kommen die Arbeitgeber nicht ungeschoren davon. Unternehmen würden allzu oft Menschen, die älter als 55 Jahre seien, keine Chance mehr geben. „Das muss sich ändern“, sagt die Bundeskanzlerin unter Beifall. „Denn wenn das nicht passieren würde, dann wäre die Rente mit 67 natürlich nur eine Rentenkappung.“ Sie habe bei einem großen deutschen Autohersteller beobachten können, dass auf einer Produktionsschiene für ältere Arbeitnehmer die Zeiten im Herstellungsprozess etwas verlangsamt worden seien. Diese Veränderung habe dazu beigetragen, dass die ältere Arbeitnehmer im Produktionsprozess bleiben und „gute Arbeit“ leisten könnten.
Mit ihrer Aufforderung, den demographischen Wandel als Chance für ältere Arbeitnehmer zu nutzen, trifft die Kanzlerin den Nerv vieler Menschen. Erst jüngst hatte eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergeben, dass 59 Prozent der Deutschen es für sinnvoll halten, auf die feste Altersgrenze für den Ruhestand zu verzichten. Stattdessen sollte es einem Arbeitnehmer ermöglicht werden, so lange zu arbeiten, wie er es möchte.
Unmut rührt sich im Saal des CCH, als die Kanzlerin das umstrittene Betreuungsgeld für Familien verteidigt. Union und FDP wollen das Geld an Eltern auszahlen, die ihre Kinder nicht in eine öffentliche Krippe geben wollen. Die Pläne gehen von einer Höhe von bis zu 150 Euro pro Monat aus. Kritiker lehnen das Betreuungsgeld als „Herdprämie“ ab. Damit würden Bemühungen um eine flächendeckende Kleinkindbetreuung konterkariert. Außerdem fürchten sie, dass Kinder bewusst nicht in Krippen geschickt werden, um das Haushaltseinkommen zu erhöhen. Die Kanzlerin macht an diesem Punkt ihrer Rede jedoch einen entschlossenen Eindruck. Jeder solle die Betreuung seines Kindes frei wählen können.