Bundespräsident Joachim Gauck mahnt auf dem 10. Deutschen Seniorentag mehr Chancen und mehr Verantwortung für die Generation 60+ an.
Hamburg. Doris Bühn hat doch glatt die Vorlesung über das Staatsrecht geschwänzt. "Ich wollte unseren Bundespräsidenten Joachim Gauck sehen", begründet sie die frevelhafte Tat und lächelt dabei spitzbübisch. Ärger wegen des Fehlens bei der Vorlesung befürchtet sie nicht. "Ich frage einen Kommilitonen nach der Mitschrift."
Doris Bühn ist 65 Jahre und eine, die sich wie viele jener jungen Alten so gar nicht alt fühlt, die seit sechs Semestern als Gasthörerin Rechtsvorlesungen an der Universität besucht und der sich der Bundespräsident eine Stunde zuvor als Verbündeter empfohlen hatte, einer der "mit 72 eine ganz neue und ehrenvolle Aufgabe übernehmen durfte".
"Ja zum Alter" - das Motto des 10. Deutschen Seniorentages klingt dagegen ein wenig angestaubt. Ursula Lehr, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen brachte es bei der Eröffnung gestern im Hamburger Congress Center auf den Punkt, worum es geht: "Statt Anti-Aging - Pro-Aging."
+++ Hurra, wir werden älter +++
In Hamburg leben derzeit rund 421.000 Menschen der Generation 60+ - das ist fast jeder vierte Einwohner. Bis zum Jahr 2030 wird ihr Anteil als Folge des demografischen Wandels auf 30 Prozent steigen. Ein Prozess, der vor einigen Jahren Ängste auslöste. Von Vergreisung der Gesellschaft war die Rede, vom Kollaps der Sozialsysteme, sogar vom "Krieg der Generationen".
Davon ist im CCH nichts zu spüren. Der 72-jährige Bundespräsident wirkt so gar nicht greisenhaft, als er mit jugendlich anmutendem Charme von der baldigen Geburt seines dritten Enkelkindes erzählt und davon, dass er wegen seines Auftritts auf dem Seniorentag der Geburtstagsfeier seines zweiten Enkelkindes fernbleiben müsse.
Vielmehr macht Gauck mit weisen, nachdenklichen Worten - so etwa der Idee vom flexibleren Renteneintrittsalter - deutlich, wie mitten im Leben die Generation 60+ steht. Und wie wenig alt sie sich fühlt. Der Präsident dürfte dabei einem verbreiteten Lebensgefühl entsprochen haben. Erst im März hatte das Forschungsinstitut Forsa herausgefunden, dass eine Mehrheit einen Menschen erst für alt hält, wenn dieser älter als 75 Jahre ist.
Inga-Fatima Brychta dürfte dieser Definition ohne jeden Zweifel zustimmen. Die Geschäftsführerin von Marion's Ambulanter Krankenpflege könnte es sich eigentlich bequem machen, statt im CCH für ihr Unternehmen zu werben. Die Firma hat die 65-Jährige längst ihren beiden Töchtern Marion und Ajla übertragen, und auf dem Papier ist sie Rentnerin. "Wenn ich aber Pflegebedürftige besuche, in den Arm genommen werde, dann merke ich, dass ich noch gebraucht werde", sagt die vitale Frau. Dieses "Gebrauchtwerden" ist wichtig, keine Frage, aber nicht ihr alleiniger Lebensinhalt. "Ich bin Taucherin und werde so lange tauchen, solange ich kann."
Damit ist Inga-Fatima Brychta fast schon ein Paradebeispiel für die Generation der "Midlife-Boomer", von der die Autorin Margaret Heckel in ihrem Buch schreibt, das in Kürze von der Körber-Stiftung herausgegeben wird. Die Journalistin erzählt darin von "Menschen im besten Alter, die neue Wege erkunden". In den vergangenen 25 Jahren seien ältere Menschen als "ersetzbar, nicht belastbar und verbraucht" beschrieben worden. Das habe sich inzwischen radikal geändert. Vielmehr sollte der 50. Geburtstag als "Mitte des Lebens" betrachtet werden.
Dieser Prozess berührt aber beide Seiten. Die Gesellschaft muss ihre Vorurteile über die ältere Generation abbauen. Diese wiederum muss bereit sein, auch nach dem 65. Geburtstag Verantwortung zu übernehmen. "Es liegt in unserer Verantwortung, das längere Leben zum Gewinn für alle zu machen", fordert Bundespräsident Gauck und fügt hinzu: Noch nie in der deutschen Geschichte sei die ältere Generation so gesund und wohlhabend gewesen wie derzeit. "Ist sie aber auch die dankbarste?", fragt der Präsident.
Doris Bühn ist 65 Jahre alt und wirkt doch noch längst nicht alt. Ihre "Dankbarkeit" besteht in ihrer Freude, mit der sie sich ins Leben stürzt. Bei den Rechtsvorlesungen an der Universität zum Beispiel, wo sie die Einzige in ihrem Alter ist. Viele Jahre habe sie im kaufmännischen Bereich gearbeitet und ein eigenes Geschäft geführt, erzählt sie. Und jetzt erfülle sie sich einen Lebenstraum. "Denn eigentlich wäre ich gern Richterin geworden."