Der Kiez feiert eine braun-weiße Nacht. Zehntausende bejubeln den Aufstieg des FC St. Pauli in die höchste deutsche Spielklasse
Nie mehr zweite Liga, nie mehr, nie mehr! Kaum zappelt in Fürth der Ball zum 4:1-Sieg des FC St. Pauli im Netz, startet daheim auf dem Kiez die große Aufstiegssause. Es ist keine Party, auch keine "Paaadie", sondern eine Orgie in Braun und Weiß. "Heja, heja, St. Pauliiii", skandieren sie zwischen Schanze und Nobistor, liegen sich in den Armen, lobpreisen die Fußballgötter als Kollektiv der Gerechtigkeit und lassen das Bier zischen.
"Die Jungs sind Weltklasse!", jubiliert Malte Bannert vor der "O-Feuer Bar" am Schulterblatt. Die neue Erstklassigkeit sei wichtig für die Fans, noch mehr jedoch für die ganz spezielle Kultur im Stadtteil. Ganz anders sein und trotzdem oben, dies sei das Signal der Nacht. Freundin Hannah Melzner freut sich, dass sich alle freuen, und stimmt ein in den Choral der Begeisterung: "So ein Tag, so wunderschön wie heute!"
Durchblick haben, auch wenn man nur wenig gesehen hat, diese Kunstfertigkeit verbindet nicht nur Malte, Hannah, Sebastian und die Umstehenden. Denn die Bar selbst ist ebenso wie die Lokale auf der Ecke restlos überfüllt. Siegestrunkene Sportsfreunde stehen nicht nur auf dem Bürgersteig, sondern auch auf der Straße. Vom Monitor drinnen ist nur ein hellgrüner Schein zu sehen, doch Triumphe sind auch aus der Ferne herrlich zu zelebrieren. Wenn vorne die Arme hochgerissen werden, macht man hinten eben mit. Ganz einfach ist das, wenn Einigkeit herrscht.
19.17 Uhr. Abpfiff in Fürth, Anpfiff auf St. Pauli. Vom Schulterblatt aus strömt die lautstarke Menge gen Reeperbahn. Am Neuen Pferdemarkt verbrüdert sich das Fußballvolk, marschiert gemeinsam weiter. Da der Bürgersteig vor der Fankneipe Jolly Roger zur Tanzbühne umfunktioniert ist, wird die Budapester Straße genutzt - von der Polizei wohlwollend toleriert. "Nie mehr Hansa Rostock!", rufen sie. In Anspielung auf die ungeliebten Anhänger dort und das Ende dieses Klassenkampfs. Auch vor dem St.-Pauli-Stadion, der Heimstätte des Erfolgs, bricht die Karawane gen Spielbudenplatz auf. Vorbei an Gesinnungsgenossen im Café Miller und singenden Horden vor der Spelunke "Millerntor" an der Detlev-Bremer-Straße. Die 0,33-Liter-Flasche Astra, im Volksmund "Knolle" genannt, für 1,50 Euro findet reißenden Absatz; Flachmänner der Sorte "Dirty Harry" kosten 20 Cent mehr. Wer kann da schon Nein sagen?
Lothar und Basti zumindest sagen Ja - und starten mit hochprozentigem Proviant durch: Auf zum Spielbudenplatz, dem Epizentrum der Begeisterung. Längst ist der Verkehr zum Erliegen gekommen, auf dem Kiez sonst eher eine Seltenheit. Doch heute herrscht Ausnahmezustand. Praktisch, dass die Polizei schnell reagiert: Kurzerhand wird die Reeperbahn zwischen Millerntor und Davidstraße gesperrt. Dass vereinzelte Radaubrüder und Trunkenbolde festgenommen werden, trübt die ausgelassene Stimmung kaum.
Einige kommen dennoch durch. So wie Tobi und Charly mit ihrem schwarzen Chevrolet. Auf der Ladefläche hat sich spontan ein fröhliches Quintett einquartiert: Erol aus Barmbek-Süd, Simon aus Groß-Borstel, Jan, Johannes und Seb. Im Schritttempo rollt der Oldtimer Richtung Große Freiheit. Fahnen wehen, Sprechchöre machen sich breit: "Nie mehr zweite Liga, nie mehr!"
"Der Aufstieg ist wunderbar", ruft Erol, "und heute wird die Nacht zum Tage gemacht." Kumpel Simon hüpft im Takt auf der Ladefläche und befindet mit einem Hauch Philosophie: "Das 4:1 ist schön, aber wichtiger ist das Ergebnis dahinter." Weil dieser Sonntag "ein Sieg für den gesamten Stadtteil" sei.
Tom Brown ist das ein wenig zu hoch gegriffen. Hauptsache das Bier fließt. Dafür ist der Mann aus Cardiff dreifach gut drauf. Weil er aus Wales übers Wochenende zum Junggesellenausstand nach Hamburg gejettet ist, weil ihn seine 19 Kumpels von der Insel mit flüssigem Nachschub aus dem "Herzblut St. Pauli" versorgen - und weil er von all den Jecken und Paradiesvögeln die trefflichste Kostümierung hat: Ein Dirndl in Braun-Weiß. Dazu eine blonde Perücke. Ein Traum.
Kurz nach 21 Uhr sind es Abertausende, die einen Abend wie im Rausch erleben. "Die Nacht ist zum Schlafen viel zu jung", frohlockt eine Blondine mit "Retter"-T-Shirt. Sie küsst jeden, der es mag. Viele mögen. Auch Tom mit seinem Dirndl. "Was soll erst am kommenden Sonntag sein", fragt er, "wenn das Vorspiel schon so erstklassig ist?"