Hamburg. Warum die Neu-Auflage einer Koalition von Grünen und CDU möglich werden könnte. Die Hamburger SPD schwächelt.
Mithat Capar hupt zweimal kurz zur Begrüßung, parkt seinen Motorroller und eilt dann zum vereinbarten Termin mit dem Abendblatt-Reporter ins Café Ribatejo in Ottensen. Der Betriebswirt hat keine Zeit zu verlieren. Wer im Feierabend-Wahlkampf an 2000 Türen in Ottensen klingeln will, muss auf jede Minute achten.
Wie auch immer das Wahlergebnis am 26. Mai ausfallen wird, niemand wird dem SPD-Spitzenkandidaten für den Wahlkreis Ottensen mangelnden Einsatz vorwerfen können. Infostände, Flugblatt-Aktionen, Haustürbesuche – Capar gibt alles. Doch der Bezirksabgeordnete weiß um die Schwere seiner Mission: „Wir haben keinen Rückenwind.“
In der Tat: Bundesweit kommen die Genossen aus dem Umfragetief nicht mehr heraus, auch die Hamburger SPD schwächelt. Dazu die missliche Kartenaffäre im Bezirk Nord beim Rolling- Stones-Konzert, in die mehrere Spitzen-Sozialdemokraten verwickelt sind, und die durch Juso-Chef Kevin Kühnert ausgelöste Sozialisierungsdebatte – Unterstützung sieht anders aus. Capar wäre daher zufrieden, wenn seine Partei in Altona das Ergebnis von 2014 in etwa halten könnte, obwohl die SPD vor fünf Jahren mit 30 Prozent ein Minus von mehr als zehn Prozent kassierte. „Wir müssen alles dafür tun, dass wir die stärkste Fraktion im Bezirk bleiben“, sagt Capar.
Gesche Boehlich war immer pragmatisch
Ein paar Meter führt der Weg an einem Lastenfahrrad vorbei in den Konferenzraum der Altonaer Grünen. Als sich der Abendblatt-Reporter versehentlich Kaffee statt heißes Wasser über den Teebeutel gießt, schnappt sich Gesche Boehlich den Becher, wirft den Teebeutel weg und sagt: „Kein Problem, der Kaffee schmeckt noch.“
Pragmatisch war Gesche Boehlich schon immer, ob als Veranstalterin von Busreisen oder als Fraktionschefin der Grünen. Als ihre Fraktion 1999 am Kosovo-Krieg zerbrach – vier der zehn Abgeordneten schlossen sich zur Regenbogen-Fraktion zusammen – stand sie unter enormem Druck.
Doch die Blankeneserin ließ sich nicht beirren, steckte Rückschläge bei späteren Wahlen ebenso weg wie Konflikte mit Koalitionspartnern. Nach dem Abschied von Uwe Szczesny (CDU) führt niemand länger in Altona eine Fraktion als sie. Und während der SPD eine steife Brise ins Gesicht weht, muss Gesche Boehlich aufpassen, dass ihre Partei vor lauter Rückenwind nicht abhebt. Sie könnte in Altona schaffen, was manche politische Beobachter auch ihren Parteifreunden in der Bürgerschaft zutrauen: den Aufstieg zur stärksten Fraktion.
CDU hat sich Verkehrswende verschrieben
Gesche Boehlich dämpft die Erwartungen: „Wir freuen uns über jedes Wahlergebnis, das über dem von 2014 liegt.“ Und wenn die Grünen CDU und SPD überholen sollten? „Auch dann werden wir nicht groß feiern, sondern uns auf die Konstituierung der Bezirksversammlung vorbereiten.“ Mit Gedankenspielen zu Koalitionen will sie sich gar nicht erst beschäftigen: „Wir werben für uns als eigenständige politische Kraft.“
In der SPD ist man sicher, dass die Grünen mit der CDU koalieren werden, falls es das Wahlergebnis hergeben sollte. „Dann machen die das, definitiv“, sagt SPD-Mann Capar. 2004 hatten sich CDU und Grüne erstmals in Altona auf eine Zusammenarbeit verständigt.
Und diesmal liegen beide Parteien inhaltlich enger zusammen als vor 15 Jahren. Unter dem Einfluss ihres Kreisvorsitzenden Marcus Weinberg, designierter Herausforderer von Bürgermeister Peter Tschentscher, hat sich die CDU Altona der Verkehrswende verschrieben – die einstige Pro-Autofahrer-Partei kämpft für Fahrradstraßen und ein kostenfreies HVV-Ticket für Senioren.
Gemeinsamer Antrag
Einen Vorgeschmack auf Grün-Schwarz gab es im März, als beide Parteien einen gemeinsamen Antrag auf ein autofreies Ottensener Kerngebiet einbrachten – von September an werden Autos rund um den Spritzenplatz für ein halbes Jahr verbannt. Allerdings verliert Gesche Boehlich mit Szczesny einen engen politischen Vertrauten. „Auf Uwes Wort war immer Verlass“, sagt sie.
Dennoch dürfte sie sich im Zweifel auch mit dem CDU-Spitzenkandidaten Sven Hielscher besser verstehen als mit dessen SPD-Kontrahenten Thomas Adrian. Der Sozialdemokrat hatte sich 2013 als Fraktionschef für den Posten des Bezirksamtsleiters in Altona beworben. Doch Gesche Boehlich beschied Adrian, dass die Grünen keinen aktiven Mandatsträger wählen würden – auch dies erklärt, warum es in dieser Wahlperiode trotz einer rechnerischen Mehrheit kein rot-grünes Bündnis gab.
Passendes Geschenk
Statt Adrian bekam die SPD-Politikerin Liane Melzer den Job. Sie scheidet im August aus, bei einem entsprechenden Wahlausgang könnten ihr erstmals eine Frau oder ein Mann mit grünen Präferenzen folgen. Für AfD, die ein drittes Mandat und damit Fraktionsstärke anstrebt, und Linke bleibt dagegen weiter die Rolle der Opposition. Die FDP will ihr schwaches Ergebnis von 2014 im Idealfall verdoppeln und könnte bei einer entsprechenden Konstellation auf eine Jamaika-Koalition mit Grünen und CDU hoffen.
Für ein Zweierbündnis Grüne/CDU gab es in der vergangenen Bezirksversammlung bereits das passende Geschenk. Gesche Boehlich überreichte Szczesny zum Abschied jeweils ein Paar grüne und schwarze Socken. Passt.
SPD – Liste 1
Thomas Adrian
Thomas Adrian (54), Beamter aus Lurup (dort auch aufgewachsen), gehört seit über 25 Jahren der Bezirksversammlung Altona an.
Der Fraktionschef und Spitzenkandidat der Sozialdemokraten setzt besonders auf die „rasante Entwicklung des Bezirks, vor allem entlang des jetzt entstehenden Autobahndeckels, in der Mitte Altona oder in Bahrenfeld mit der Science City“. Die Altonaer SPD will, so Adrian, diese Projekte im Dialog mit den Bürgern weiter voranbringen: „Wir wollen, dass Altonas einzigartige Mischung aus Großstadt, Dörflichkeit, Gewerbe und Natur dabei erhalten bleibt.“
Unter dem Motto „Ilovealtona“ wolle man „gemeinsam mit Altonas Bevölkerung die Zukunft gestalten“. Zu den Kernzielen gehöre der Bau von ausreichend bezahlbaren Wohnungen: „Stadtentwicklung wollen wir von Beginn an mit den Bewohnern und neuen Nachbarn gestalten und bei der Nachverdichtung besonders die soziale Infrastruktur mitdenken.“
Der Verkehr sei ein weiteres Schlüsselthema: „Wir setzen uns für mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer ein, genauso für den Ausbau des Nahverkehrs. Carsharing und StadtRad-Angebote sind zu stärken.“
Adrian will zudem dafür sorgen, Parks und Grünanlagen erlebbar zu machen und sauber zu halten und die Naturschutzgebiete zu erhalten. pw
CDU – Liste 2
Sven Hielscher
Der Geschäftsführer, aufgewachsen in Osdorf, lebt seit 2000 in Othmarschen. Der Bezirksversammlung gehört er bereits seit 1986 an. Für Sven Hielscher (59) steht das Thema Verkehr im Mittelpunkt: „Es entstehen neue Wohnquartiere in Altona. Die Einwohnerzahl wächst, und die Verkehrsdichte nimmt weiter zu. Unser Ziel ist es, trotzdem die hohe Lebensqualität in unserem Bezirk zu bewahren. Hierfür brauchen wir behutsame Anpassungen und manchmal auch neue Lösungen.“
Hielscher ist wichtig, dass die Altonaer „sicher, schnell und günstig“ von Ort zu Ort zu kommen: Dazu gehört auch, den Umstieg vom Auto auf Nahverkehr und Fahrrad einfach und attraktiv zu gestalten. Hielscher gehört als Mitglied den Ausschüssen für Grün, Naturschutz und Sport, dem Planungs-, dem Bau- und dem Hauptausschuss an. Er plädiert für einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und will „Lurup, Osdorf, Bahrenfeld optimal an das Schienennetz anbinden“.
Zudem fordert er eine verbessere Baustellenkoordination. Seine Partei setzt sich auch für den Umbau der Bernadottestraße einschließlich ihrer Verlängerungen zu einer Fahrradstraße ein. Die Carsharing-Angebote sollten ausgebaut werden. Hielscher fordert zudem mehr Schutz für Fußgänger „als schwächste Verkehrsteilnehmer mit barrierefreien, ausgeleuchteten und ausreichend breiten Wegen“. pw
Bündnis 90/Grüne – Liste 4
Gesche Boehlich
Für die Fraktionschefin, die als Reiseveranstalterin arbeitet, stehen die Themen Verkehr und Wohnungsbau im Mittelpunkt. Gesche Boehlich (60) zog bereits 1993 als sogenannte „zubenannte Bürgerin“ in die Bezirksversammlung ein, vier Jahre später übernahm sie ihr Abgeordnetenmandat.
„Altonas Grün in einer wachsenden Stadt als Lebensraum zu schützen und zu entwickeln ist uns ein Anliegen. Mit der Pflanzung von Bäumen auf Plätzen und an Straßen, mit Dach- und Fassadenbegrünungen kann das Stadtklima verbessert werden“, sagt sie.
Für Gesche Boehlich, die in Blankenese lebt, bedeutet Stadtentwicklungspolitik, „mehr geförderte und günstige Wohnungen zu bauen“. Dabei gelte es besonders, Projekte für Baugemeinschaften und Genossenschaften zu berücksichtigen.
Die Grünen plädieren für den Ausbau der Velorouten. Der Anschluss des Hamburger Westens an das Schnellbahnnetz solle zudem optimiert werden. Dabei gehe es insbesondere um die Planungen für einen Bahnanschluss Osdorfs und Lurups. Attraktive Sport- und Spielplätze seien wichtig für die Gesundheit und förderten das soziale Miteinander: „Deshalb setzen wir Grüne uns für die Sanierung aller Spielplätze im Bezirk ein, verbunden mit dem Ziel, sie inklusiver und naturnäher zu gestalten“, sagt Gesche Boehlich. pw
Die Linke – Liste 3
Robert Jarowoy
Der Fraktionschef der Linken, seit 2008 in der Bezirksversammlung, handelt mit Bio-Käse und schreibt Krimis. Über sich selbst schreibt Jarowoy (66): „Aufgewachsen in Langenhorn, hat es mich 1980 nach Ottensen verschlagen, weil es sich dort anbot, eine günstige Wohnung zu finden. Wir zogen in eine Dreizimmerwohnung an der Keplerstraße für eine Miete von 300 Mark, zwar mit Klo auf dem Treppenabsatz, Ofenheizung und Duschkabine in der Küche, aber ... bezahlbar!“
Für Jarowoy ist „damals wie heute Wohnen für die meisten Menschen das wichtigste Kriterium“. Daher sei das „Recht auf bezahlbaren Wohnraum so wichtig wie ein Mindestlohn von zwölf Euro und reine Luft, die nicht von Altölverbrennungsanlagen wie Kreuzfahrt- oder Containerschiffen oder dem Schwerlastverkehr durch die Stresemannstraße verpestet werden darf“.
Seine Fraktion fordert „eine Mietpreisdeckelung bei acht Euro für Bestandswohnungen, öffentlich geförderte Sozialwohnungen entsprechend dem Bedarf – derzeit in Hamburg 45 Prozent der Haushalte“. Beim Klima plädiert Jarowoy für eine „zwingende Verpflichtung der Schiffe zu Landstromversorgung“. Die Linke fordert zudem den Ausbau des schienengebundenen Nahverkehrs nach Osdorf und Lurup und lehnt die Schließung des Altonaer Fern- und Regionalbahnhofs ab. pw
FDP – Liste 5
Katharina Blume
Die Filmschaffende lebt seit 25 Jahren in Flottbek. 2016 wechselte Katharina Blume (55) als Abgeordnete in der Bezirksversammlung von der CDU in die FDP. Erst durch ihren Wechsel erhielt die Partei Fraktionsstatus (ab drei Abgeordnete).
Katharina Blume fordert „bezahlbare Wohnungen“ für Altona. Die Stadtentwicklung müsse aber „qualitativ statt rein quantitativ“ betrieben werden. Das gelte auch für den geförderten Wohnungsbau: „Ein behutsamer Umgang mit gewachsenen Stadtteilen ist wichtig. Das bedeutet: maßvolle Nachverdichtung im Altonaer Kerngebiet und in den Villengebieten und rechtzeitige Entwicklung der sozialen Infrastruktur.“
Die FDP will die Abwanderung von etablierten Firmen in andere Bezirke verhindern: „Dafür müssen verstärkt Anreize geschaffen werden. Dies betrifft die Ausweisung von Gewerbeflächen und den Erhalt und die Neugründung von Handwerkerhöfen.“ Die FDP beschäftigt sich auch mit der Nachfolge der im August ausscheidenden Bezirksamtschefin Liane Melzer (SPD). Blume plädiert für ein „transparentes Ausschreibungsverfahren“ bei der Kandidatensuche. Sie fordert: „Altona braucht eine starke Bezirksamtsleitung, die für Altonas Bürger ansprechbar ist und den Bezirk mit hoher Kommunikationskompetenz in die Zukunft führt.“ pw
AfD – Liste 6
Uwe Batenhorst
Der Spitzenkandidat der AfD war 25 Jahre Werbeleiter, lebt seit 50 Jahren im Bezirk. Uwe Batenhorst (78) zog 2014 in die Bezirksversammlung ein.
„Ich fordere den Senat und die herrschenden Parteien im Bezirk auf, die einseitige Verkehrspolitik gegen den Autofahrer zu beenden“, sagt Batenhorst. Er plädiert dafür, „den ständigen Abbau von Parkplätzen zu beenden“. Ausreichender Parkraum reduziere den Suchverkehr und schone die Umwelt. Das Park+ride-System an den S- und U-Bahnen sollte wieder kostenlos sein. Zudem brauche man in Altona mehr trockene und sichere Fahrradstellplätze.
Batenhorst fordert ein „besseres Baustellenmanagement, um die Bauzeit und die damit verbundene Verkehrsstauung zu verkürzen“. Er wirbt für „eine behutsamere Nachverdichtung, bei der die Interessen der bestehenden Quartiere angemessener berücksichtigt werden“: Weitere Forderungen: „Sozialwohnungen stärken und erhalten. Wohnraum muss bezahlbar sein. Wieder mehr Ortsämter einrichten oder mit Bürger-Infobussen Wochenmärkte besuchen.“ Die AfD plädiert zudem für eine bessere finanzielle Ausstattung der Pflegeheime, den Neubau von Schulen sowie die Wiedereinführung eines Bezirklichen Ordnungsdienstes: „Verwahrlosung des öffentlichen Raums und die Entstehung von Angsträumen müssen aufhören.“ pw
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