Ottensen . Liselotte Friedrichsen und Marie Hoyer waren bei der Aufführung vom „Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg ...“ im Altonaer Theater.

Vor Spannung gerötete Wangen, ein Gläschen Sekt, ein herzliches Willkommen: Die Damen sind aufgeregt wie kleine Kinder und haben sich extra schick gemacht für diesen Abend, der ein ganz besonderer ist. Denn wann besuchen schon zwei betagte Frauen, 100 und 101 Jahre alt, ein Theaterstück mit einem derart beziehungsreichen Titel: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Und so ist es eine entzückende Idee des Altonaer Theaters und der Seniorenresidenz Alsterpark, Marie Hoyer und Liselotte Friedrichsen zur Saisonpremiere dieses Bühnenbestsellers einzuladen. Mit einer dunklen Limousine mitsamt Chauffeur kommen die Ehrengäste aus der Rathenaustraße in Alsterdorf nach Ottensen.

Im Café Oelsner des Theaters wartet Nuca Selbuz, die stellvertretende Intendantin, auf die beiden Besucherinnen. Erst eine fröhliche Begrüßung, dann folgen Canapés, Sekt und Mineralwasser. Noch eine Stunde bis zur Aufführung des Bestsellers von Jonas Jonasson, über den sich die beiden Besucher zuvor mit einem Hörbuch und einer schriftlichen Zusammenfassung informiert haben.

Während sich alle Welt auf Allan Karlssons 100. Geburtstag vorbereitet, verschwindet dieser kurzentschlossen – und versetzt ganz Schweden in Aufruhr. Es folgt eine turbulente Geschichte, deren Weg mit Leichen und Überraschungen gepflastert ist. Humor und Fantasie leben hoch.

Ganz nach dem Geschmack vonMarie Hoyer. „Das klingt verheißungsvoll“, meint sie augenzwinkernd, „aber ich war an diesem Tag lieber in Hamburg.“ Am 19. März feierte sie mit Familie und Freunden ihren 100. Zwei Nichten aus Altona und Alsterdorf, 68 und 75 Jahre alt, „also noch jung“, wie Marie Hoyer sagt, gehörten dazu. Der Neffe lebt in Ägypten.

Die beiden Verwandten besuchen ihre Tante jede Woche in der Seniorenresidenz. Es gibt immer viel zu erzählen. Schließlich kam Marie Hoyer 1915 in Hamburg-Hamm zur Welt, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sie hat eine Menge erlebt, 56 Jahre in Wesel am Niederrhein gewohnt. „Ich hatte ein gutes, erfüllendes Leben“, bilanziert sie. Aber Gott sei Dank geht’s ja noch weiter.

Vor gut sechs Jahren kehrte sie in ihre Heimatstadt zurück. Einmal im Jahr fährt sie zur Kur; jede Woche geht sie in die Sauna. Montags ist Turnen mit Sitzgymnastik. Regelmäßig düst sie mit ihrem E-Skooter, einem mobilen Fahrgerät, zu ihrer Nichte im Grünen oder zum Klönschnack ins Café Braband am Alsterdorfer Damm. In der Seniorenresidenz Alsterpark, in der 155 Damen und Herren in eigenen Appartements sowie 70 Personen stationär untergebracht sind, wird sonst leidenschaftlich Canasta, Skip-Bo und – mit Karten – Mensch-ärgere-Dich-Nicht gespielt.

„Das Leben ist schön“, bestätigt Liselotte Friedrichsen. Zwar ist sie nicht mehr ganz so rüstig wie früher, im Kopf jedoch hellwach. Wie Marie Hoyer. Ein Geschenk des Himmels. Ganz beseelt erzählt sie von ihrem 101. Geburtstag am 23. August: Fast alle der drei Kinder, sechs Enkel und fünf Urenkel feierten an der Elbe mit. Das hält jung.

Zur Vorstellung des „Hundertjähri-gen“ ist die 101-Jährige an der Seite ihrer Tochter Jutta Friedrichsen-Kruse erschienen. „Mutti ist ungemein positiv“, weiß sie, „und sieht das Leben von der Sonnenseite.“ Anno 1914 war Liselotte eines der ersten Babys, die in der Frauenklinik Finkenau zur Welt kamen. Es folgten die Schulzeit am Gymnasium Lerchenfeld, die Hochzeit 1939, ein paar Jahre in Fröndenberg an der Ruhr, viele Reisen und 2008 der Einzug in eine 1,5-Zimmer-Wohnung in der Seniorenresidenz.

Fahrstühle sind was für Faule – auch im Alter von 100 Jahren

Mit 69 Jahren schaffte Liselotte Friedrichsen das Goldene Sportabzeichen, mit weit über 70 fuhr sie noch regelmäßig zum Skilaufen. Mittlerweile ist es ruhiger geworden. Am liebsten spielt sie Canasta oder sitzt sie auf ihrem Balkon und genießt den Blick auf die große Eiche. Bis vor einem halben Jahr stieg sie grundsätzlich jede Treppe hoch: „Fahrstühle sind was für Faule.“

Da muss auch Lutz Richter schmunzeln. Der Leiter der Seniorenresidenz ergriff die Initiative für diesen Abend im Altonaer Theater unter dem Vorzeichen der Hundertjährigen. Es gäbe noch so viel zu erzählen, doch da ertönt das Signal. Gleich legen die Schauspieler Jörg Schüttauf, Dirk Hoener, Georg Münzel & Kollegen los. Liselotte Friedrichsen und Marie Hoyer nehmen auf ihren roten Sesseln in Reihe drei Platz.

„Die Idee ist originell“, sagt Marie Hoyer, „aber ich würde nicht aus dem Fenster steigen und einfach abhauen.“ Und sie fügt hinzu: „Dazu ist das Leben in Hamburg viel zu schön.“ Der Vorhang öffnet sich.