Berlin. Die eigenen Worte eines Tages in Bronze gegossen zu lesen, mehr kann niemandem beschieden sein, der je ein öffentliches Amt bekleidet.
Mit einer einzigen Rede in den Kanon fundamentaler, gleichsam mit Verfassungsrang geadelter Dokumente einzugehen, in denen sich die Nation über sich selbst verständigt, von wem außer dem Bundespräsidenten erwartet man das in dieser Republik? Wirklich gelungen ist es wohl nur einem.
Es gibt mancherlei Gründe, Richard von Weizsäcker zu würdigen, der heute seinen 90. Geburtstag feiert. Den Präsidenten des Evangelischen Kirchentages, der in diesem Amt bereits früh in den sechziger Jahren enge Verbindungen zu Christen in der DDR pflegte und die Aussöhnung der Deutschen mit ihren östlichen Nachbarn predigte.
Krawallige Hausbesetzerszene befriedet
Den CDU-Politiker, der seiner Partei 1978 ihr erstes Grundsatzprogramm bescherte, ihr aber als Freigeist auch öfters auf die Nerven ging, etwa mit seiner Sympathie für die Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts. Den Regierenden Bürgermeister des damaligen West-Berlin von 1981 bis 1984, der eine krawallige Hausbesetzerszene zu befrieden wusste. Die Herkunft aus einer exemplarisch in die deutsche Geschichte verstrickten Beamten- und Gelehrtendynastie.
Dass man sich auf Dauer an den Bundespräsidenten von Weizsäcker erinnern wird freilich, hat mit all dem allenfalls indirekt zu tun. Vielmehr mit jener einen Rede, die er im ersten Jahr seiner Amtszeit am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt, und deren Kernsätze heute auf zwei Bronzetafeln an der Neuen Wache in Berlin nachzulesen sind. Eingeprägt hat sich, dass er damals den 8. Mai einen „Tag der Befreiung” nannte.
Dabei war, was er sagte, weder wirklich neu noch unerhört. Wie er es sagte, dass es ihm gelang, die vielfach kontroversen Vergangenheitsdebatten der Jahrzehnte zuvor zu einer Synthese zusammenzuführen und das historische Selbstverständnis der Deutschen auf einen gültigen Begriff zu bringen, darin lag die Bedeutung des Augenblicks. Auch in der Person des Redners, in der sich individuelle und nationale Geschichte in besonderer Weise verquickten: Den Krieg hat er als Angehöriger eines altpreußischen Eliteregiments in voller Länge mitgemacht, der Vater war Staatssekretär im Auswärtigen Amt des Dritten Reiches, vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal hat ihn 1948 der Sohn als Jurastudent zu verteidigen geholfen.
Leute lauschten andachtsvoll
Wenn es vom Bundespräsidenten heißt, er wirke mangels eigener nennenswerter Befugnisse allein mit der Macht seines Wortes, so hat von Weizsäcker dieses Amt von 1984 an zehn Jahr lang in seither unerreichter Weise ausgefüllt. Er hätte das Berliner Telefonbuch vorlesen können, und die Leute hätten immer noch andachtsvoll gelauscht, spöttelten manche.
Dass der 8. Mai ein „Tag der Befreiung” gewesen sei, das etwa hat der damalige Kanzler Helmut Kohl schon gut zwei Wochen früher gesagt als der Präsident, in einer Gedenkfeier im ehemaligen KZ Bergen Belsen. Die Republik indes mochte erst aufhorchen, als von Weizsäcker es sagte. Kohl wird es mit Verdruss vermerkt haben.
Beruhte doch ohnehin von Weizsäckers Popularität nicht zuletzt auch darauf, dass viele namentlich in den Medien ihn als den nobleren, den feinsinnigeren, den nachdenklicheren, den beredteren Gegenentwurf zum Kanzler wahrnahmen. Er hat sich das gerne gefallen lassen. In den Sechzigern hatte ihn der damals junge Talentsucher Kohl in die CDU und in die Politik geholt, er hat ihm den Weg ins Schö-neberger Rathaus und letztlich auch in die Villa Hammerschmidt geebnet, um dann mit wachsendem Groll zu erleben, wie neben ihm der Präsident an Statur gewann.
"Sich zu vereinen heißt tauschen lernen"
Dessen Wort von den „machtversessenen und machtvergessenen” Parteien haben ihm die Deutschen gedankt - Distanz zum Parteienbetrieb erwarten sie von ihren Präsidenten -, Kohl war beleidigt. Auch im Zenit seiner Kanzlerschaft 1990 lag er mit von Weizsäcker über Kreuz, weil dieser seiner Verheißung öffentlich widersprach, die Wiedervereinigung werde die Deutschen nichts kosten: „Sich zu vereinen, heißt teilen lernen.”
Dass er der letzte Präsident der alten Bundesrepublik und der erste des vereinten Deutschland war, auch das lässt seine Amtszeit herausragen. Gesamtdeutsch empfunden hat er stets. „Wir sind hüben und drüben Deutsche, wenn auch in zwei Staaten. Uns verbindet mehr als Sprache und Kultur”, so hat 1983 der damalige Regierende Bürgermeister auf einem Kirchentag in Wittenberg gesprochen.
Am Ende seiner zweiten Amtszeit im Jahr 1994 haben ihn die Deutschen ungern gehen lassen. Könnten sie sich einen idealen Bundespräsidenten synthetisch herstellen, würde „kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen”, hat man ihm nachgesagt.