Essen. Sechs Uhr, zwölf Grad, Regen – ab in’s Wasser: Frühschwimmer ficht kein Wetter an. Was treibt sie nur an? Einblicke in ein besonderes Soziotop.
Um kurz vor Sechs sind die ersten schon im Wasser. Da hat das Freibad eigentlich noch geschlossen. Am Wetter kann es nicht liegen, dass sich das kleine Becken im Essener Nordwesten trotzdem schon füllt: 12 Grad zeigt das Thermometer an, es fällt leichter Regen. So frisch ist es heute früh, dass sich beim Atmen kleine Wölkchen bilden: Bedingungen, wie an einem milden Wintertag.
Die Frühschwimmer im Freibad Dellwig ficht das nicht an. Um die Zeit draußen zu verkürzen, haben die meisten die Badehosen und -anzüge schon drunter. Umkleidekabinen braucht hier niemand. Geschweige denn Schränke. Man kennt sich schließlich; da kommt nichts weg. „Ist ja wie eine Badewanne“, kommentiert eine der frühsten unter den Dellwiger Frühschwimmerinnen die Wassertemperatur. Prahlerei? Wahrscheinlich nicht. Schwimmmeisterin Rebecca Rohde, von allen hier nur „Becca“ genannt, sagt: „Ach, die kommen auch, wenn die Heizung mal ausfällt.“ Heute sind es 25 Grad im spiegelklaren Wasser.
Ein Essener Bad mit langer Geschichte
Es ist ihre zweite Saison hier im Freibad „Hesse“, wie es viele auch nennen. Ein Geheimtipp im Ruhrgebiet mit einer langen Geschichte. Namensgeber ist die längst nicht mehr existente Gastwirtschaft Hesse, die von polnischen Kumpels um die Jahrhundertwende gern aufgesucht wurde, um gemeinsam gegen das Heimweh anzutrinken. Bis in die 60er Jahre gab es nebenan noch die Zeche Levin, an die heute fast nur noch die gleichnamige Straße erinnert.
Das Freibad gibt es schon seit 1927, es ist das zweitälteste in Essen. Im Krieg wurde es zerstört, finanziell stand es mehrfach vor dem Aus. Die Zeiten überdauert hat einzig der imposante Sprungturm. Aus Stahlträgern zusammengeschraubt wird er auch die ersten Badegäste schon an einen Förderturm erinnert haben. Das Sprungbecken wurde in den 80ern verfüllt, der ikonische Turm ist geblieben. Am Ort der einstigen Gastwirtschaft Hesse steht heute das Bootshaus des Vereins RuWa Dellwig, der seit den ersten Tagen das Bad am Rhein-Herne-Kanal betreibt. Von der Liegewiese aus hat man einen guten Blick auf die vorbeiziehenden Lastkähne.
„Morgen Becca.“ „Morgen Lore.“
Rebecca Rohde könnte mit Ende 20 die Enkelin der meisten Frühschwimmerinnen hier sein. Sie sagt: „Sowas Herzliches wie hier habe ich noch nicht erlebt!“ 90 Prozent kennt sie mit Vornamen. „Morgen Becca.“, „Morgen Lore.“ In der Frühschicht ist sie allein, die Kasse geschlossen. Bezahlen muss hier sowieso fast niemand. Wer keine Monatskarte hat, bezahlt direkt bei ihr am Häuschen.
Sollte sich doch einmal ein Neuling unter die Frühaufsteher verirren, fällt er sofort auf. Grüßen sollte man unbedingt, Siezen besser nicht. Wer sich schnell integrieren will, schwimmt Brust, die Hauptlage eines jeden Frühschwimmers, ohne Untertauchen versteht sich, da lässt es sich besser quasseln. Die Bahnen zählen die meisten eh nicht mit, wer auf die magischen 1000 Meter kommen will, muss 39-mal wenden. Was zählt, ist die Zeit im Wasser: Eine Stunde halten es die meisten gern aus, manchen reicht auch eine halbe.
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Als erster steigt heute Uwe – einer der wenigen Männer – aus dem Wasser. Seit 20 Jahren kommt der ehemalige Glasreiniger aus Borbeck ins Bad. Fast genauso lange ist er in Rente, so wie die meisten hier. Frühschwimmen ist die Subkultur der Alten. Für den Weg zu den Umkleiden holt er nicht einmal sein Handtuch raus. Die Kälte? Offensichtlich kein Thema. Wann er das letzte Mal erkältet gewesen sei? „Kann ich nicht sagen.“
Fisch vom Hannes bei der Moni
Lore, Jahrgang 38, kommt sogar schon seit 40 Jahre, von Mai bis September, an jedem Tag, bei Wind und Wetter. „Nass wird man ja sowieso“ lautet ein geflügeltes Wort unter ihresgleichen. In Dellwig hat sie schon ihr Sportabzeichen gemacht, da war das Becken noch 25 Meter länger, erzählt sie bei der Kaffeerunde. „Der gesellige Teil“ gehört für den harten Kern (des harten Kerns) fest mit zum Morgenritual. Oben bei „der Moni“ im Imbiss gibt es heute sogar „Fisch vom Hannes“. Hannes, selbst Stammgast, ist für den Brötchendienst zuständig. Den Fisch hat er selbst gefangen. Monis Filterkaffee gibt es für sagenhafte ein Euro, belegte Brötchen für zwei.
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Rebecca Rohde sagt, „die sind wie so eine Schulklasse“ und meint wohl: die Sabbelei, das Feixen, die Cliquenbildung. Jeder hat morgens ,seine‘ Bahn wie Pennäler ihre Ecke auf dem Schulhof: Die einen gehen es sportlicher an, die anderen betreiben eher „Mundgymnastik“, wirft der obligatorische Klassenclown in die Kaffeerunde. Die löst sich mit Eintrudeln der „Vormittagsschwimmer“– damit sind alle ab 7 Uhr gemeint – nun langsam auf. Vorher wird noch schnell ein Lied angestimmt, heute ausnahmsweise auch ohne Geburtstagskind: „Die Lore vom Kanal“ ist eine Eigendichtung. Und als über dem Strommast dann endlich mal die Sonne durch die graue Wolkendecke bricht, da sind die Frühschwimmer vom Freibad Dellwig schon wieder zuhause.