Dortmund. Zum 125. Geburtstag der Politikerin steht in ihrer Heimat Dortmund eine heikles Votum an. Auf dem Gedenken an Helene Wessel liegt ein Schatten.
Eigentlich war alles geplant und schien seinen Gang zu gehen. Das Denkmal sollte „an zentraler Stelle im Stadtgarten stehen“, und damit „in unmittelbarer Umgebung des Dortmunder Rathauses“. Es werde, so die Pressemeldung der Stadt weiter, „an die historischen Leistungen einer beeindruckenden Frau erinnern, gleichzeitig aber auch Mahnung sein“. Künstlerinnen und Künstler könnten ab sofort ihre Entwürfe für das Denkmal einreichen. Das war der Stand im August 2021. Knapp zwei Jahre später gilt: Bis heute gibt es den Gedenkort nicht, das Projekt ist auf Eis gelegt. Denn es gibt Zweifel daran, ob der „beeindruckenden Frau“ tatsächlich ein Denkmal zusteht.
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Die vor 125 Jahren, am 6. Juli 1898, in Dortmund geborene Helene Wessel, an die das Denkmal im Stadtgarten erinnern sollte, war eine der wenigen profilierten Frauen, die in der von Männern dominierten Politik der Nachkriegszeit Karriere machten. Sie war eine der „Mütter des Grundgesetzes“, also einer der vier Frauen, die neben den 61 Männern 1948 im Parlamentarischen Rat die Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland ausarbeiteten. Nach der Neugründung der Zentrumspartei nach dem Krieg wurde sie zur Vize-Parteivorsitzenden gewählt, zog in den Landtag von Nordrhein-Westfalen ein. 1952 tritt sie aus dem Zentrum aus und gründet mit dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP). Beide engagieren sich gegen eine Wiederbewaffnung sowie in der Anti-Atombewegung. Von politischen Gegnern wurde Helene Wessel damals als Kommunistin und „Wanderpredigerin gegen die deutscher Wiedervereinigung“ verunglimpft.
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„Sie wusste, was sie wollte“
In der GVP traf Wessel auch auf den späteren nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten Johannes Rau. Der zeigte sich beeindruckt von der kämpferischen Katholikin. „Mir ist sie aufgefallen, weil sie resolut war, weil sie wusste, was sie wollte, weil sie eine klare soziale Kompetenz hatte. Da war sie sogar stärker als Gustav Heinemann“, sagte Rau später einmal rückblickend.
Auch an einem anderen Tabu rüttelte Helene Wessel vehement: Zu Beginn der 50er-Jahre stand die Anpassung des Bürgerlichen Gesetzbuches an den Gleichheitsparagrafen des Grundgesetzes auf der politischen Tagesordnung. Unmissverständlich setzte Wessel sich für die rechtliche Gleichstellung der Frau in der Ehe ein: „Man tue doch nicht so, als ob die Welt unterginge, wenn man das Bürgerliche Gesetzbuch ändert.“ Sie, die selbst nie heiratete, formulierte aber auch: „Erst Mann und Frau machen den Menschen aus.“
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Als sich die GVP 1957 wieder auflöste, fand Helene Wessel – ebenso wie Heinemann, Rau und andere – ihre endgültige politische Heimat in der SPD, für die sie auch in den Bundestag einzog. Dort war die Sozialdemokratin bis 1969 als Abgeordnete tätig. Kurz vor ihrem Tod am 13. Oktober 1969 verlieh man ihr für ihre politische Lebensleistung das Bundesverdienstkreuz mit Stern. Der Bundestag schrieb in seinem Nachruf auf Helene Wessel: „Sie war eine Politikerin mit dem Mut der Suffragette und dem Herzen einer Frau.“
Das brisante Thema „Eugenik“
Zurück zum Denkmal, das in Dortmund eigentlich schon beschlossene Sache schien. Doch mitten im Entscheidungsprozess kamen im Rat der Stadt Bedenken auf. Dort war man aufmerksam geworden auf eine Diskussion im rheinischen Bornheim, wo eine Straße nach der Politikerin benannt werden sollte. Doch kamen den Lokalpolitikern dort Bedenken, an der Denkmalwürdigkeit Helene Wessels – es ging dabei um deren Haltung zum Thema „Eugenik“.
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Ende der 20er-Jahre – Helene Wessel saß als Abgeordnete der Zentrumspartei im Preußischen Landtag – stand auch der damalige Geburtenrückgang im Fokus gesellschaftlicher Debatten. Dabei ging es auch um die Frage, „wer Kinder bekommen sollte“. Es ging um Eheverbote, Asylierung und Sterilisation. Die Idee von einem „gesunden Volk“, das nicht durch psychisch oder physisch sowie chronisch Erkrankte „eingeschränkt“ werden soll, war Teil der „Eugenik“ oder „Erbgesundheitslehre“, die vor allem auf sozialdarwinistischen und früh-evolutionstheoretischen Konzepten fußte – und die auch von den Nationalsozialisten angewendet wurde. In einer Wessel-Biografie auf der Homepage des nordrhein-westfälischen Landtags heißt es: „Auch Helene Wessel vertrat diesen Standpunkt.“
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Weiter steht dort: „Für sie waren die ,Fürsorgebedürftigen’, die für eine Verwahrung in Frage kamen, diejenigen welche die Gesellschaft finanziell und in ,ihrer Kraft belasten’. Hierzu zählte sie: ,Krüppel, Blinde, Taubstumme, Geschlechtskranke, Greise, Jugendlich Unreife, Idioten, Epileptiker, Geisteskranke, schwere Gewohnheits- und Berufsverbrecher, Trinker, Morphinisten, sexuelle Abweichungen, Schwachsinnige, Stumpfe, Haltlose, Erregbare, Brutale und Impulsive, Antisoziale’.“
Eine heikle Sache also. In Dortmund legte man die Denkmal-Pläne erst einmal zur Seite, die Ausschreibung wurde gestoppt. Die Kulturbetriebe, namentlich das Stadtarchiv, wurden beauftragt zu prüfen, ob der Denkmal-Plan angesichts von Wessels Äußerungen weiter verfolgt werden soll. Das Ergebnis dieser Prüfung sollen die Kulturbetriebe nach Angaben der Stadt dem zuständigen Ausschuss für Kultur, Sport und Freizeit vorlegen, „der dann auf Grundlage der Empfehlung einen Beschluss fassen wird“. Nach den Sommerferien soll eine Empfehlung vorliegen, heißt es im Dortmunder Rathaus.
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Ein Ehrengrab in Bonn
Helene Wessel und der Umgang mit den Gedenken an sie war 2021 nicht nur in ihrer Geburtsstadt Dortmund ein Thema. In Bornheim revidierte der Rat letztlich sein Vorhaben, in einem Neubaugebiet eine Straße nach ihr zu benennen. Stattdessen gibt es dort nun die Helene-Weber-Straße. Die katholische Frauenrechtlerin war ebenso Mitglied der Zentrumspartei, später der CDU. Auch sie gehört zu den „Müttern des Grundgesetzes“. In anderen Städten gibt es dagegen heute Helene-Wessel-Straßen, etwa in ihrer Heimatstadt Dortmund sowie in Moers, Wesel, Neuss, Troisdorf oder in Bonn, wo die Politikerin auch begraben liegt. Ihre Ruhestätte auf dem Südfriedhof der ehemaligen Bundeshauptstadt ist seit 2010 ein Ehrengrab.
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Damals hatte die Stadt Bonn erklärt, obwohl Helene Wessel als Mitglied der Zentrumspartei in der Weimarer Republik Forderungen der Eugenik unterstützte, sei sie fälschlicherweise „in die Nähe nationalsozialistischen Gedankenguts gerückt“ worden. Vielmehr sei sie eine „absolute Gegnerin des Nationalsozialismus“ gewesen, „auch wenn einige ihrer sozialpolitischen Vorstellungen keineswegs dem heutigen Menschenbild entsprechen“.
Auch auf der Internetseite des Düsseldorfer Landtags heißt es versöhnlich: „Helene Wessels politisches Leben zeigt, dass widersprüchliche Ideen, Überzeugungen und Vorstellungen in den Ansichten moderner Zeitgenossen koexistieren – in der Verständigung sah sie das höchste Gut einer Demokratie.“
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.