Essen. Ist mein Partner ein Narzisst oder einfach ein Idiot? Ganz egal, sagt Anja. Sie hat es geschafft, ihre toxische Beziehung hinter sich zu lassen.
Er war lustig, spontan, ein bisschen unkonventionell. Einer, der sich gut verkaufen konnte. Sie war verliebt. Als sie sich kennenlernten, arbeitete Anja gerade in einer Münchner Klinik. Eine Weile lang führten sie eine Fernbeziehung, bevor sie gemeinsam nach Rheinland-Pfalz zogen. Sie fanden gute Jobs, kauften ein Haus, das sie gemeinsam renovieren wollten. Dass sich ihre Beziehung in eine ungesunde Richtung entwickelte, merkte Anja schon lange, bevor er anfing, sie zu schlagen.
Anja heißt eigentlich anders. Sie möchte zu ihrer Geschichte stehen und würde auch mit ihrem echten Namen auftreten, tut es aber aus Rücksicht auf ihren Ex-Partner nicht. Zwanzig Jahre waren die beiden ein Paar. Jahre, in denen sie sich hintenangestellt hat. „Er wollte immer mit dem Kopf durch die Wand, konnte sehr dominant sein.“ Entzog sie sich seiner Kontrolle, indem sie auch nur für ein paar Tage wegfuhr, wurde er eifersüchtig. „Es ist so gegipfelt, dass ich ihm Sachen gar nicht erzählt habe. Und er hat daraus gemacht: Sie lügt mich ja nur an.“ Als Anja anfängt, ihre Meinung zu sagen, wirft er ihr vor, sich verändert zu haben. „In gewisser Weise gab mir das Sicherheit, denn dadurch musste ich mich auch nicht verändern.“
Toxische Beziehung macht Betroffene krank
Bis sie es schließlich will und feststellen muss, dass sie überhaupt keine Entscheidungen mehr für sich treffen kann. „Da hat irgendwann mein Körper gesagt: Wenn du es selber nicht kapierst, werde ich dir helfen.“ Anja kommt 2020 in Reha. Mit dem Abstand gewinnt sie einen anderen Blick auf die Dinge. Die gelernte Krankenschwester vertraut sich ihrer besten Freundin an. In diesem Gespräch fällt zum ersten Mal der Ausdruck „Narzisst“. Auch Anjas Bruder findet, ihr Ex habe sich sehr stark narzisstisch verhalten: Er isoliert sie von ihrer Familie und wenn es nicht nach ihm geht, setzt er sie emotional unter Druck, straft sie mit Nichtachtung oder beschimpft sie. Schließlich verletzt er sie nicht mehr nur mit Worten.
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Von außen betrachtet, muss Anja sich eingestehen, würde jeder eine solche Beziehung sofort beenden. Zwei Jahre soll es noch dauern, bis sie selbst so weit ist. Trotz allem würde sie ihren Ex nicht als Narzissten beschreiben. Sie recherchiert und merkt: Ja, er zeigt narzisstisches Verhalten, aber eben nicht nur. Überhaupt, findet sie, wird da viel zu schnell abgestempelt: „Narzisstische Züge hat jeder. Mir war es letztlich egal, wie das Kind heißt – ich hatte das Ziel, da herauszukommen.“
Narzissmus: Experte warnt vor Laiendiagnose
Narzissmus ist ein Modewort, das vor allem in den Sozialen Medien gern in einem Atemzug mit toxischen Beziehungen genannt wird. Der Psychiater und Psychotherapeut Pablo Hagemeyer plädiert dafür, die Diagnose den Fachleuten zu überlassen und den Partner nicht als Narzissten zu verschreien. „Wenn einer zu viel aus der Beziehung zieht oder zu wenig hineininvestiert, sind unausgesprochene Bedürfnisse und Überforderung der typische Engpass, in dem sich narzisstisches Verhalten bei jedem Menschen zeigt“, so Hagemeyer. Ist das dauerhaft der Fall, könne man von einem narzisstischen Muster sprechen. „Die Frage ist, wie lange man als Partner die narzisstischen Seiten ertragen kann, bevor man die Person verlässt.“
Als Anja aus der Reha zurückkehrt, schlägt sie eine Paartherapie vor, die ihr Partner ablehnt. „Ich war so mutig und habe gesagt, ich trenne mich.“ Da droht er ihr mit Selbstmord. Danach ist es für ein paar Monate „scheingut“ zwischen ihnen. Heute weiß die 45-Jährige: „Ich trage keine Verantwortung dafür, was er mit seinem Leben macht. Aber so zu denken – da muss man erstmal hinkommen.“ Und sie schafft es. An einem Sommermorgen packt sie ihre Sachen, hinterlässt einen Brief auf dem Tisch. Offiziell geht sie zur Arbeit. In Wahrheit meldet sie sich krank, macht aber klar, dass sie nicht wiederkommt.
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Anja bringt 400 Kilometer zwischen sich und ihren Ex. „Ich hatte erst überlegt, mir in derselben Stadt eine Wohnung zu suchen, aber das wäre niemals gut gegangen.“ Noch am selben Tag, als sie bei ihren Eltern einzieht, reist er ihr nach. „Ich habe ihm geschrieben, dass ich Abstand brauche und ich nicht will, dass er dort auftaucht, weil es nichts ändert.“ Doch er klingelt Sturm, kampiert stundenlang vorm Haus, bis man ihm Hausverbot erteilt, bekniet ihre Freunde, ein gutes Wort für ihn einzulegen und schreibt der Familie noch monatelang Briefe.
Häusliche Gewalt: Betroffene zeigt Ex-Partner an
Mittlerweile würde er dafür im Gefängnis landen. Anja hat sich entschieden, ihren Ex-Partner anzuzeigen. Ein schwieriger, aber wichtiger Schritt: „Weil mir in der Verhandlung alle geglaubt haben und das stärkt einen schon.“ Das Gericht verurteilt ihren Ex-Partner wegen häuslicher Gewalt zu einer Bewährungsstrafe mit strengen Auflagen, allen voran absolutes Kontaktverbot. Ein schlechtes Gewissen hatte er nie, ist Anja sicher. „Ich hatte immer gehofft, dass er sich entschuldigt. Bis ich gemerkt habe: Das ist nicht relevant für mich, ich muss mich um sich selbst kümmern.“
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„Über solche Lebensentscheidungen nach langen gemeinsamen Wegstrecken kritisch zu blicken, machen nur wenige“, weiß Psychiater Pablo Hagemeyer aus seiner Praxis. Das habe viel mit eigenen Narzissmen zu tun. Menschen, die in solchen Dynamiken feststeckten, wüssten oft nicht, welche problematischen Anteile sie selbst haben und auf den Partner projizieren. „Der ist dann der größere Arsch, dabei haben sie nie geprüft, ob und wie sie dazu beitragen.“ Extremfälle wie häusliche Gewalt ausgenommen, müssten beide Partner Verantwortung übernehmen für ihr eigenes Muster. „Das tut weh, weil es gegen die eigene unbewusste Natur geht“, so der Experte. „Da fällt es leichter gegen den anderen zu wettern, statt bei sich zu suchen.“
Fokus weg vom Narzissten, hin zu sich selbst
Das erkennt auch Anja: „Viele, die aus toxischen Beziehungen kommen, stürzen sich auf alles, was man darüber lesen oder bei YouTube schauen kann.“ Der Fokus liege dabei oft auf dem „bösen, bösen Ex“. Der andere Partner ist das Opfer. Eine Rolle, die Anja nicht einnehmen will. Sie will sich nicht länger mit dem Verhalten ihres Ex auseinandersetzen und findet einen Coach, dessen nach vorn gewandter Ansatz ihr hilft. Daniel Brodersen von der Narzissmus Selbsthilfe begleitete sie neun Monate lang, bis zur Gerichtsverhandlung und schließlich auch zu ihrem eigenen inneren Frieden. „Nicht der ganze Mensch ist böse oder der ganze Mensch ist gut“, lernt Anja, „sondern es sind Anteile von uns, die sich irgendwie verhalten.“
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Heute hat Anja Antworten auf die Frage, warum sie so lange geblieben ist. Die Beziehung war eine Konstante, wenn auch keine gute. Ein Geben und Nehmen – auf beiden Seiten: „Man weiß, wie der andere tickt und was man tun muss, damit er einem das gibt, was man braucht.“ Ein bisschen manipulativ, wie sie anerkennt, aber notwendig, um die Beziehung weiterzutragen. Und dann wären da die Glaubenssätze, für die ihr Ex-Partner nichts kann, die Anja schon in ihrer Kindheit angenommen hat, als ihre ältere Schwester schwer krank wurde: Erstmal nach den anderen gucken, Vorbild sein. „Ich war schon immer ein kleines Helferlein.“ Nicht umsonst sei sie Krankenschwester geworden. Aber es sind auch Überzeugungen, wie viele Frauen sie in sich tragen: „Wenn ich ein braves Mädchen bin, ist mein Umfeld auch gut zu mir.“
Betroffene will ihre Erfahrungen mit anderen Teilen
Anja hat Schwimmen gelernt. So beschreibt sie das Gefühl, wenn man sich aus einer toxischen Partnerschaft löst und erstmal wieder zu sich finden, ein neues Gespür für sich selbst entwickeln muss. „Es war, als würde ich auftauchen, nach Luft schnappen.“ In Norddeutschland hat Anja eine neue Heimat gefunden, einen neuen Job und einen Partner, der keine Angst hat vor Veränderung. Trotzdem: „Nach einer verunglückten Beziehung wieder beziehungsfähig zu werden, ist ein langer Weg.“
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Da hilft es, dass ihr neuer Partner ihn mit ihr beschreitet. Wenn Anja nach Hause kommt und sofort den Putzlappen schwingen will, ermahnt er sie, erstmal etwas für sich zu tun. Das kannte sie vorher nicht. „Da muss ich manchmal einen Tritt in den Hintern bekommen – auch heute noch“, gesteht Anja. „Aber wenn ich mich nicht bewusst für mich entscheide, entscheide ich mich ja unbewusst dafür, dass ich nicht wichtig bin.“ Seit sie gelernt hat, sich selbst zu helfen, wuchs in Anja der Wunsch, auch anderen eine Hilfe zu sein. Anfang Juni traf sich ihre Selbsthilfegruppe für Menschen in toxischen Beziehungen zum ersten Mal.
>> Was ist Narzissmus?
- Bis vor kurzem wurde der Narzissmus im Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation, der International Classification of Diseases (ICD), unter den Spezifischen Persönlichkeitsstörungen geführt. Von einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung war die Rede, wenn ein Mensch ein verzerrtes Selbstbild an den Tag legt. Er hält sich für großartig und erwartet von anderen, dass sie ihn bewundern. Mit Zurückweisung oder Kritik kann er schlecht umgehen. Pathologische Narzissten überschätzen sich selbst, zeigen sich oft dominant; es mangelt ihnen an Empathie. Hinter alledem steckt eine tiefsitzende Unsicherheit, die sie zu kompensieren suchen.
- Im Zuge einer Überarbeitung Anfang 2022 wurden die Narzisstische Persönlichkeitsstörungen aus dem ICD gestrichen. Die Forschung geht mittlerweile davon aus, dass jeder Mensch narzisstische Züge aufweist und die Grenze zum krankhaften Narzissmus nicht so eindeutig ist, wie man früher glaubte.
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