Vor 70 Jahren, am 23. Mai 1953, schafft es Bill Haleys Song „Crazy Man, Crazy“ in die US-Charts. Es ist die Geburtsstunde des Rock’n’Roll.
Die 50er-Jahre stehen in den USA für die Kultur des Aufbegehrens. Der Drang nach Freiheit und die Rebellion gegen die bürgerliche Moral sorgen für den Urknall einer neuen musikalischen Bewegung, den Rock’n’Roll. Als der farbige Sänger Jackie Brenston (21) und der farbige Pianist Ike Turner (19) am 3. oder 5. März 1951 die Memphis Recording Service Studios des weißen Produzenten Sam Phillips (28) betreten, ahnen sie nicht, dass sie Musikgeschichte schreiben werden.
Der elektrisierende, urwüchsige Blues „Rocket 88“ aus ihrer Feder hat bereits alles, was den Rock’n’Roll einmal auszeichnen soll: ungewöhnlich schnelle 170 Beats pro Minute, lasziven Gesang, eine raue Spielweise inklusive lauter, übersteuerter und verzerrter E-Gitarrenklänge, die unbeabsichtigt auf den kaputten Röhrenverstärker von Willie Kizart zurückgehen.
Am Anfang stand ein Verrat
Als „Rocket 88“ im April 1951 bei Chess Records als Single erscheint, verschweigt das in Chicago ansässige Label die Mitwirkung von Bandleader Ike Turner und dessen Rhythm Kings. Auf dem Cover werden lediglich der Sänger Jackie Brenston und die Gruppe „Delta Cats“ genannt. Das und der große Erfolg der Single bei einer weißen Hörerschaft führen zu einem Zerwürfnis der Musiker. Turner soll an der Platte nur 40 Dollar verdient haben. Sie führt den Themenkomplex Autos, Sex und Alkohol in die Popularmusik ein. Insbesondere der Cadillac soll eine immense Bedeutung für die weiße US-amerikanische Jugendkultur bekommen. Doch erst 1991 würdigt die Rock And Roll Hall Of Fame „Rocket 88“ als ersten Rock’n’Roll-Song überhaupt.
Obwohl die ersten Rock’n’Roller „dreckig“ und ungekünstelt klingen und schwarz sind, soll ausgerechnet ein leicht übergewichtiger Weißer aus Michigan der erste sein, der den rebellischen und lärmenden Musikstil Rock’n’Roll definiert. Sein Name: Bill Haley.
Äußerlich wirkt der 27-jährige fünffache Familienvater nicht wie ein Elternschreck, Jugendidol oder Krawallmacher. Tatsächlich ist er aber der erste, der schweren Blues-Themen die Stromlinienförmigkeit der Countrymusik verpasst. Am 23. Mai 1953 steigt sein von ihm selbst geschriebener Song „Crazy Man, Crazy“ – eine Mischung aus R&B, Western und Popmusik – in die amerikanischen Billboard-Charts ein und erreicht Platz 12. Damit ist er der erste Song, der zu seiner Zeit allgemein als Rock’n’Roll anerkannt und ein Hit wird.
Die gemeinsam mit seiner Band, den Comets, eingespielte Single „Rock Around The Clock“ erscheint ein Jahr später und wird die erste Rock’n’Roll-Nummer an der Spitze der Billboard-Pop-Charts. Das gleichnamige Album klettert im Frühjahr 1956 bis auf Platz zwölf. Im Zuge seines massiven Erfolgs wird Bill Haley von den Medien als „Vater des Rock’n’Roll“ tituliert.
Die Ära der Rockmusik beginnt über Nacht und attackiert die Dominanz von Jazz- und Pop-Größen wie Frank Sinatra, Dean Martin oder Bing Crosby. Zum größten Star dieser neuen Bewegung wird ein Lkw-Fahrer aus Tupelo/Mississippi: Elvis Aaron Presley.
Elvis braucht ein Geschenk für die Mutter
Im August 1953 meldet sich der 18-Jährige im Büro von Sam Phillips Memphis Recording Service. Der Talentscout ist auf der Suche nach einem weißen Countrysänger, der über eine Rhythm’n‘Blues-Stimme verfügt. Presley will lediglich für ein paar Minuten Studiozeit bezahlen, um eine Platte mit den Titeln „My Happiness“ und „That’s When Your Heartaches Begin“ aufzunehmen. Ein Geburtstagsgeschenk für seine Mutter Gladys Love. Presleys Vater Vernon ist deutscher, schottischer und englischer Abstammung. Phillips Sekretärin notiert sich nach der Session den Namen des jungen Mannes, zusammen mit dem Kommentar: „Guter Balladensänger. Hold.“ Man solle an ihm festhalten.
Erotische Anziehungskraft
Im Sommer 1954 kommt Elvis Presley in Phillips’ frisch gegründeten Sun Studios erstmals mit dem Gitarristen Scotty Moore und dem Bassisten Bill Black zusammen. Phillips ist von den sentimentalen Liedern des jungen Sängers zuerst wenig beeindruckt. Als dieser in einer Pause am Mikrofon herumalbert und spontan die Blues-Nummer „That’s All Right (Mama)“ von Arthur Crudup intoniert, steigen Black und Moore nacheinander in die Session mit ein. Jetzt entdeckt Phillips in Elvis‘ Stimme das gewisse Etwas: eine geheimnisvolle erotische Anziehungskraft.
Sam Phillips hat ein untrügliches Gespür dafür, wann ein Künstler seine beste Vorstellung gibt. Ihm kommt es vor allem aufs Gefühl und nicht auf die technische Perfektion an, und so sucht er stets nach der „perfekten unperfekten“ Aufnahme. Phillips ist ein Innovator, indem er beim Abmischen Elvis‘ Stimme zurücknimmt zugunsten der Instrumente, was damals absolut unüblich ist. Zudem verwendet er bei den Aufnahmen einen Echo-Effekt.
1956 wechselt Elvis Presley schließlich vom regionalen Sun- zum nationalen RCA-Label. Seine Debütsingle beim neuen Label ist „Heartbreak Hotel“. Sie entwickelt sich mit zwei Millionen verkauften Exemplaren zum größten Hit des Jahres 1956. Der Rolling Stone wählt sie in seiner Liste der 500 besten Singles aller Zeiten auf Platz 45. Am 23. März 1956 erscheint das Album „Elvis Presley“. Für RCA wird es der erste Millionenseller in seiner Geschichte. Im selben Jahr tut er sich mit Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins zum Million Dollar Quartett zusammen. Die spontane Session gilt als Schlüsselmoment in der Geschichte des Rock’n’Roll.
Chuck Berry macht sein eigenes Ding
Seither ist der (weiße) Sänger Elvis Presley unzählige Male kopiert worden. Der (schwarze) Chuck Berry hat das nicht nötig. Umgekehrt reichte der Platz auf dieser Seite nicht, um alle Coverversionen des Elvis Aaron Presley von Chuck Berry aufzuzählen. Seine erste Plattenaufnahme macht der Gitarrist und Sänger Berry mit 18 Jahren im Spätsommer 1954 in den Premiere Studios im schwarzen Elendsviertel von St. Louis/Missouri. Die Songs werden noch unter seinem bürgerlichen Namen Charles Berry veröffentlicht.
Im April 1956 nimmt er als Chuck Berry „Roll Over Beethoven“ auf. Die Single verkauft sich millionenfach und hält später als einer von 50 historisch bedeutsamen Titeln Einzug in die Forschungsbibliothek des US-Kongresses. Berrys Manager will ihn zum schwarzen Elvis aufbauen, aber der Musiker macht lieber sein eigenes Ding. Mit harten, lauten und ungeschliffenen Gitarrensongs wie „Rock’n’Roll Music“, „Johnny B. Goode“ oder „Sweet Little Sixteen“ vollzieht er den nahtlosen Übergang vom Rhythm&Blues zum furiosen, provozierenden Rock’n’Roll.
Der wahre Gott des Rock’n’Roll
Doch im stark rassistischen Amerika der 50er-Jahre ist ein eigenwilliger schwarzer Jugendheld wie Chuck Berry nicht gefragt. Seine Songs werden gerade wegen ihrer unverwechselbaren Gitarrenriffs später zwar von den Beatles und Rolling Stones aufgenommen, aber er selbst wird immer wieder von windigen Geschäftsleuten und Managern betrogen. Das macht ihn mit der Zeit zu einem übellaunigen, misstrauischen Zeitgenossen. Nichtsdestotrotz gilt der 2017 verstorbene Musiker heute als der wahre Gott des Rock’n’Roll, als einer, der für die Rockmusik vermutlich mehr getan hat als jeder andere.
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Einer der wenigen farbigen Sänger, die in der ersten Liga der Rock’n’Roll-Künstler der 50er mitspielen dürfen, ist der 2020 verstorbene Little Richard. Mitte des Jahrzehnts bricht er wie ein Tornado über den Rock’n’Roll herein. Der Sänger und Pianist aus Macon/Georgia ist anders als seine musikalischen Zeitgenossen, bekennt sich offen zur Homosexualität und tritt ungemein exzentrisch auf. Ob mit ondulierter schwarzer Tolle, grellem Make-up oder glamourösem Spiegelscherbenanzug – als besessener Zeremonienmeister macht Little Richard von Anfang an eine gute Figur. Ein rebellischer und kantiger Geist, dessen selbstzerstörerische Konzerte Orgien gleichen. Richard selbst nennt sich „King of Rock“. Tatsächlich werden seine lauten und aggressiven Songs wie „Tutti Frutti oder „Long Tall Sally“ Dekaden später von vielen Rock- und Hardrock-Musikern gecovert.
Innerhalb von zwei Jahren bringt Little Richard sagenhafte 30 Millionen Platten an den Mann. Genauso plötzlich wie sein Auftauchen ist sein Abgang von der Rock’n’Roll-Bühne: Ende 1957 beschließt er nach Beobachtung eines Feuerballs am Himmel mit dem „bösen Rock’n’Roll“ radikal zu brechen. Stattdessen dient er als Prediger und Bibelverkäufer dem Christentum – bis zu seinem Comeback Anfang der 60er.
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