Duisburg. 160 Tage kämpften die Stahlarbeiter von Rheinhausen um ihr Krupp-Werk. Der Aufstand blieb letztlich erfolglos, sollte aber Geschichte schreiben.
Die Nachricht trifft Rheinhausen, trifft Duisburg und das ganze Ruhrgebiet wie ein Schlag in die Magengrube: Ende November 1987 verdichten sich Gerüchte, das Krupp-Stahlwerk Rheinhausen mit seinen über 6000 Beschäftigten solle dichtgemacht werden. Zunächst will man dort den Gerüchten nicht gaubenl, gilt das Werk am Rhein doch als modernster Standort in Europa. Doch am 27. November werden die Gerüchte zur Gewissheit. Krupp-Stahl Chef Gerhard Cromme verkündet das Aus. Das Argument: Zu große Kapazitäten am Markt. Eine Mischung aus tiefer Verzweiflung und großer Wut erfasst ganz Duisburg. Tausende Arbeitsplätze sollen wegfallen - eine soziale und ökonomische Katastrophe.
Die Wut der Belegschaft braucht ein Ventil. Sofort. Spontan legen die Stahlkocher die Arbeit nieder, werden Protestzüge organisiert und Straßenblockaden. Betriebsräte versuchen den Protest zu strukturieren und zu lenken. Die Menschen ziehen vor das Werk, hoffen auf positive Nachrichten, viele suchen Trost in der Masse. Eines war klar: Kampflos will hier niemand aufgeben.
160 Tage Arbeitskampf, die das Ruhrgebiet verändern
Was damals noch niemand weiß: Was hier im Winter 1987/88 am Horizont aufzieht, wird mit über 160 Tagen der längste, emotionalste und härteste Arbeitskampf in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Arbeitskampf, in dem Menschen über sich hinauswuchsen, in dem Solidarität mehr sein wird als ein Schlagwort. Ein Arbeitskampf der binnen Tagen Duisburg in den Bann zieht, dann das komplette Ruhrgebiet. Ein Arbeitskampf, der schließlich die ganze Republik fasziniert und nach dessen Ende das alte Ruhrgebiet nicht mehr so ist wie zuvor. Nur wer das weiß, kann erahnen, was Marco Gasse, der heutige Betriebsratschef des HKM-Stahlwerks auf der gegenüberliegenden Rheinseite meint, wenn er vor „einem zweiten Rheinhausen“ warnt.
Die Frage, ob dieser Arbeitskampf in Rheinhausen ohne diese Rede von Helmut Laakmann jemals diese Wucht entfaltet hätte, jemals zum Mythos geworden wäre, wird man nie beantworten können. Doch wie kaum etwas anderes steht die Rede Laakmanns für diesen legendären „Auf-Ruhr“. Drei Tage nach der Hiobsbotschaft tritt Krupp-Betriebsleiter Helmut Laakmann vor die 10.000 Menschen in der Kruppschen Werkshalle auf. Er, der sich vom Hilfsarbeiter in die Führungsschicht des Werks hochgearbeitet hat, spricht mit schneidender Stimme: „Es kann nicht sein, dass eine kleine Clique, eine kleine Mafia, mit den Menschen in diesem Land macht, was sie will“, ruft er. „Das Buch der Geschichte ist jetzt aufgeschlagen. Und jetzt liegt es an euch, hier mal ein paar neue Seiten zu schreiben.“ Laakmann redet Klartext: „Ab jetzt gilt: Auge um Auge und Zahn um Zahn.“ Eine Rede wie ein Keulenschlag. Niemand, der an diesem Tag dabei ist, wird sie je vergessen. Noch heute kann man sich diese Rede im Internet anhören, noch heute erzeugt sie Gänsehaut.
Der Tenor des Aufstandes ist gesetzt. In den kommenden 160 Tagen steht das Werk quasi still. Nahezu rund um die Uhr finden Protestaktionen statt, der Betriebsrat und Bürgerkomitees tagen permanent. So stellt man sich den Auftakt einer Revolution vor. Und tatsächlich: Der Widerstand ist radikal und fantasievoll. Tausende besetzen Brücken und blockieren Autobahnen, stürmen die Verwaltung von Krupp-Stahl in Bochum und sogar das „Allerheiligste“, die Villa Hügel in Essen. Der Protest verändert die Menschen. Baggerführer produzieren Videos, andere machen Radio aus der Dachstube. Tausende Menschen, die immer nur abhängig gearbeitet haben, nehmen ihr Schicksal mutig in die Hände, leben trotz aller Sorgen so intensiv wie nie zuvor. Die Aktionen machen sie vom Objekt zum Subjekt von Geschichte.
Aufstand der Kruppianer zieht ganz Deutschland in seinen Bann
Zuerst rückt die Stadt zusammen, dann das ganze Revier. Der Protest steckt an. Journalisten aus aller Welt reisen an, sind fasziniert von der ihnen so fremden Welt der Stahlkocher, über Wochen dominiert der Aufstand der Kruppianer die Nachrichten in Deutschland. So etwas hatte die Republik noch nicht gesehen – und so etwas wird sie wohl nie wieder erleben. Ein Arbeiteraufstand - hatte die Linke nicht immer davon geträumt?
Wer die Zähigkeit des Widerstandes erklären will, muss natürlich zuerst auf jene Männer verweisen, die – ähnlich wie die Bergleute – so stolz sind auf ihre Arbeit. Diese Arbeit in Schmutz und Staub, bei zugiger Kälte und großer Hitze am Hochofen, deren Faszination sich Außenstehenden kaum erschließen mag. Stahlarbeiter und Bergleute, das war der „Arbeiter-Adel“ des Reviers. Man war stolz, „Kruppianer“ zu sein.
SPD-Innenminister Schnoor: Polizei ist der bewaffnete Arm der Arbeiterschaft
Der Widerstand sprengt schon in kürzester Zeit die (fast) reine Männerwelt des Stahlwerks. Der zähe Kampf um die Thyssen- Henrichshütte in Hattingen ein Jahr zuvor dient als Blaupause. In Rheinhausen wird jetzt alles noch viel mächtiger. Ganz Duisburg steht hinter den Stahlwerkern – der Bäcker, die Architektin, der städtische Angestellte, die Lehrerin. Sie tun es nicht nur aus Solidarität, sie tun es für sich. Denn alle wissen: Ohne die Hütte geht hier vieles den Bach runter. Selbst die Polizei beteiligt sich wie selbstverständlich an den Blockaden. Als der damalige NRW-Innenminister Herbert Schnoor von der SPD kritisch darauf angesprochen wird, verteidigt er den Einsatz der Staatsdiener: Polizisten seien schließlich der „bewaffnete Arm der Arbeiterschaft“.
Nicht nur Politiker suchen die Nähe der Stahlwerker. Kein Tag vergeht, an dem nicht Prominente im Stahlwerk auftauchten, um der Belegschaft ihre Solidarität auszudrücken - ob Tatort-Kommissar „Schimanski“ Götz George oder Rockgrößen wie Herbert Grönemeyer. Man ist stolz auf das gemeinsame Foto mit den Stahlwerkern. Legendär das Konzert im Krupp-Walzwerk am 20. Februar 1988. Grönemeyer, die „Toten Hosen“, Rio Reiser, Klaus Lage und andere spielen vor rund 50.000 Menschen. Die Kirchen mischen sich ein, auf den Kanzeln in Rheinhausen wird über „Nächstenliebe“ und „Solidarität“ gepredigt. Tausende strömen zum Gottesdienst ins Werk und singen „Brot und Rosen, Rosen und Brot“. Immer wieder. Große Emotionen, Tränen fließen.
Menschenkette von Duisburg bis Dortmund
Die Herzen der Menschen fliegen den Stahlwerkern zu. Im Februar 1988 bilden rund 100.000 Menschen im Ruhrgebiet eine Menschenkette – von Krupp in Rheinhausen bis zu Hoesch in Dortmund. Das Revier steht zusammen, dicht an dicht. Welch ein Symbol!
In Rheinhausen endet der erbitterte Kampf schließlich - wie zuvor in Hattingen - mit einem Kompromiss. Auf die sofortige Schließung wird verzichtet, ebenso auf Massenentlassungen. Und doch ist das Aus für die Stahlproduktion besiegelt. Noch mitten im Arbeitskampf und trotz aller verbaler Solidaritätsbekundungen hatte die SPD-geführte Landesregierung den Schließungsplänen der Krupp-Führung heimlich zugestimmt. Heute hat auf dem ehemaligen Hüttengelände am Rhein vor allem die Logistikbranche ein neues attraktives Zuhause gefunden. Stahl ist hier nur noch Geschichte.
Die Stahlwerker haben in Rheinhausen einen Mythos erschaffen
Rheinhausen markiert das Ende des alten Ruhrgebiets. Die Menschen im Revier haben das drohende Ende gespürt und sich verzweifelt dagegen gewehrt. Letztlich vergebens. Die Macht des Marktes und des Geldes war stärker. Doch die Stahlwerker haben mit ihrem Kampf einen Mythos geschaffen - den Mythos Rheinhausen.