Berlin. Im November startet eine neue Tarifrunde zwischen Deutscher Bahn und Gewerkschaft. Deren Chef spricht über einen möglichen Streik.
Nach Warnstreiks im Frühjahr müssen sich Bahnfahrer nun auch auf stehende Züge zur Weihnachtszeit einrichten. Denn am 9. November beginnt die Tarifrunde zwischen der Deutschen Bahn (DB) und der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Die GDL fordert eine 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter bei vollem Lohnausgleich sowie 555 Euro mehr für alle. GDL-Chef Claus Weselsky will nicht lange zaudern, wenn sich die Arbeitgeber nicht schnell in diese Richtung bewegen. Es sind die letzten Tarifverhandlungen des 64-jährigen Dresdners. Im kommenden Jahr soll ein Nachfolger den Vorsitz der GDL übernehmen.
Herr Weselsky, Sie wollen eine schnelle Urabstimmung über unbefristete Bahnstreiks. Bahnvorstand Martin Seiler schlägt eine Art Schlichtung schon vor Verhandlungsbeginn vor. Was ist da los bei der Bahn?
Claus Weselsky: Der Verhandlungsführer der DB verweigert die Arbeit. Er sollte seine Pflichten erledigen und verhandeln. Alles andere ist unanständig bei einem Salär von 1,5 Millionen Euro, die er im vergangenen Jahr bekommen hat. Man kann daran erkennen, dass die Bahn selbst davon ausgeht, dass es zu einem Konflikt kommt.
Ist es nicht auch ein Friedensangebot im Sinne der Kunden, die in der Weihnachtszeit reisen möchten?
Weselsky: Das beste Friedensangebot wäre ein Angebot bei den Verhandlungen am 9. November, das auf unsere Forderungen eingeht. Doch die DB ist nicht bereit, über die Arbeitszeit zu verhandeln. Seinen angeblich innovativen Vorschlag hat er mir zehn Minuten vor Beginn seiner Pressekonferenz zugesandt. Ähnlich lief es schon mit den Verhandlungsterminen. Herr Seiler hat einfach vier Termine bis in den Januar hinein benannt und einen Weihnachtsfrieden gefordert. Bisher war es Gepflogenheit, dass die beiden Verhandlungsführer Termine vereinbaren. Das ist nicht mehr so. Die Korrespondenz findet nur noch schriftlich statt.
Das Tischtuch zwischen Ihnen und Martin Seiler ist also zerschnitten?
Weselsky: Das kann man so sagen. Es ist erkennbar, dass er kein Interesse an Verhandlungen hat. Er wollte 14 Tage Weihnachtsfrieden. Darauf musste ich antworten, dass wir das vom Verhandlungsverlauf abhängig machen, nicht von seiner Wunschliste.
Es läuft also alles auf einen Arbeitskampf hinaus?
Weselsky: Ich bin gespannt auf den 9. November und was dieser Arbeitgeber an Angeboten bringt. Der Verhandlungsführer muss sich Gedanken machen, wie man zueinander kommt. Herr Seiler spricht von 50 Prozent Mehrkosten durch unsere Forderungen. In einer anderen Tarifrunde waren wir schon einmal bei 67 Prozent und haben uns trotzdem verständigt. Er will wahrscheinlich den Abschluss der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit uns machen. Das ist mit uns nicht drin.
Die EVG hat eine Inflationsausgleichsprämie von 2850 Euro und 410 Euro mehr für alle Beschäftigten vereinbart. Das ist doch nicht schlecht?
Weselsky: Die EVG hat 20 Jahre lang keine Arbeitszeitverkürzung gefordert. Wir fordern die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeiter, weil es den Bedürfnissen unserer Mitglieder entspricht.
Sie wollten prüfen, ob Sie eine Urabstimmung vorziehen können, um gleich in einen unbefristeten Streik zu ziehen, wenn die Arbeitgeber nicht auf Ihre Forderungen eingehen. Was hat die Prüfung ergeben?
Weselsky: Die Prüfung hat ergeben, dass wir wenigstens schon einmal verhandelt haben müssen, die Verhandlungen abgebrochen oder als gescheitert erklärt werden. Wir haben ein Interesse an einem schnellen Ergebnis. Wer glaubt denn, dass wir so ein Theater machen, wie die DB mit ihrer Hausgewerkschaft der Welt vorgespielt hat? Streiks, die vom Arbeitgeber befördert worden sind. Der Arbeitgeber hat den Fernverkehr angehalten, der hat den Regionalverkehr angehalten und nicht die EVG-Mitglieder. Von denen sind nur im Promillebereich Mitglieder in den Arbeitskampf eingetreten.
Können Sie die Verhandlungen dann schon beim ersten Treffen als gescheitert erklären?
Weselsky: Das kann ich nicht vorhersehen. Wir würden aus zwei Gründen so schnell wie möglich eine Urabstimmung einleiten. Der erste Grund ist, dass man sich nichts vormachen muss. Wenn die eine Seite sagt, die Arbeitszeitverkürzung ist nicht drin, dann wissen Sie, dass dies auf dem Verhandlungswege nicht zu erreichen ist. Also müssen Sie Druck machen. Die zweite Seite ist, dass wir uns rechtssicher machen müssen. Und das schaffen wir nur mit einer Urabstimmung.
Müssen sich die Fahrgäste zu Weihnachten auf Streiks einstellen?
Weselsky: Das will ich nicht ausschließen. Wenn Sie sagen an Weihnachten selbst, äußere ich mich nicht dazu. Man sagt zwar, dass ich beinhart, aber nie, dass ich bescheuert bin.
Werden Sie es in Ihrer bald endenden Amtszeit noch schaffen, dass die GDL für alle gut 300 Bahnbetriebe Tarifabschlüsse durchsetzen kann, oder scheitern sie mit der Expansion am Tarifeinheitsgesetz (TEG)?
Weselsky: Hier hat der Gesetzgeber der Arbeitgeberseite ein Instrument zur Gewerkschaftsvernichtung in die Hand gegeben. Der Arbeitgeber hat uns nur in 18 Betrieben eine Mehrheit zugestanden und nimmt damit vielen unserer Mitglieder in den anderen Betrieben Rechte weg, für die sie lange gekämpft haben. Wir haben zum Beispiel einen Jahres-, Monats- und Wochenschichtplan durchgesetzt, der den Lokführern und ihren Familien eine große Planungssicherheit gibt. Der Lokführer weiß damit schon früh, wann er einen freien Tag hat. In der Welt der EVG-Tarifverträge gibt es das nicht. Da gibt es eine Hyperflexibilisierung der Arbeitszeit.
Die Arbeitgeber sagen, sie müssten das TEG als geltendes Recht anwenden.
Weselsky: Das ist glatt gelogen. Wir haben 63 Tarifpartner. 62 wenden das TEG nicht an. Sie wollen ihre Belegschaften nicht spalten. Die DB wollte das TEG, um die GDL klein zu machen und zu eliminieren. Das ist die faktische Wirkung. Wir müssen die Mehrheiten in den Betrieben vor Gerichten klären und sind nach zwei Jahren erst in der zweiten Instanz angekommen. Nichts ist hier geregelt. Wer das TEG einst beschloss, hat die Folgen nicht bedacht.
Welche Folgen meinen Sie?
Weselsky: Wenn die GDL keine Tarifverträge mehr macht, tritt die Situation von 2010 ein. Damals hatten wir Einkommensunterschiede von bis zu 40 Prozent in den Betrieben. Wir haben in zwölf Jahren den Tarif vereinheitlicht. Überall gibt es dasselbe Einkommen und dieselbe Arbeitszeit. Unsere Mitglieder wetzen die Messer, weil sie sich nicht wegnehmen lassen, wofür sie gekämpft haben. Die GDL verhandelt nicht nur für 18 Betriebe, sondern für 40.000 Mitglieder in der gesamten Branche. Wir haben 2021 einen Tarifabschluss von 3,3 Prozent erreicht, die EVG 1,5 Prozent. Das TEG ist Gift im Brunnen. Ich kann in vielen Betrieben keine Mehrheit erreichen. Bei Cargo sind zum Beispiel 98 Prozent der Lokführer organisiert. Aber Lokführer stellen nur 30 Prozent der Gesamtbelegschaft. Da haben wir keine Chance.
Im Frühjahr hat die EVG zusammen mit Verdi gestreikt, weil deren Tarifverhandlungen zeitgleich mit denen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen liefen. Jetzt finden zeitgleich mit Ihrer Runde die Tarifverhandlungen für die Länder statt. Wäre es denkbar, dass Sie dann zusammen mit dem dbb in einen Warnstreik ziehen?
Weselsky: Auf diese Frage antworte ich nicht, weil ich nicht weiß, wie die Tarifverhandlungen verlaufen. Aber gut analysiert, würde ich sagen.
Sie haben die Genossenschaft Fair-Train gegründet, die Lokführer bei der DB abwerben und dann an Eisenbahnunternehmen ausleihen will. Gibt es dort die 35-Stunden-Woche?
Weselsky: Wir haben im Oktober einen Haustarifvertrag mit Fair-Train abgeschlossen. Es gilt der Bundesrahmentarifvertrag für Personaldienstleister. Dazu kommen kleinere Regelungen, die Verbesserungen sind. Wer die Tarife der GDL haben will, hat jetzt eine Alternative zur DB. Wenn wir mit der DB einen Vertrag abgeschlossen haben, gibt es den auch bei Fair-Train. Aber nicht vorweg. Der Personalverleiher kann auch nicht den Preis am Markt bilden. Das müssen die Verkehrsunternehmen leisten.
Wie viele Lokführer sind schon gewechselt?
Weselsky: Noch ist niemand gewechselt, weil wir erst vor kurzem den Tarifabschluss gemacht haben. Aber jetzt laufen Bewerbungsgespräche. Ins Blaue hinein wechselt niemand. Wir haben mehr als 600 Genossenschaftsanteile verkauft. Es gibt von den Verkehrsunternehmen jede Menge Anfragen nach Personal.
Am Jahresende steht eine kleine Bahnreform an. Das Netz und der Service sollen in einer gemeinwohlorientierten Gesellschaft namens InfraGO zusammengeführt werden. Warum lehnen Sie diese Fusion ab?
Weselsky:Verkehrsminister Volker Wissing ist mit seinen Plänen als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Er nimmt minimalistisch kleine Veränderungen vor. Am schlimmsten ist, dass die InfraGO in der alten Rechtsform einer Aktiengesellschaft geblieben ist. Damit steht fest, dass der Vorstand nicht weisungsgebunden ist, dass es Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge gibt und der Geldkreislauf nach wie vor derselbe ist. Man kann aus dem Netz genügend Geld herausziehen, um sich am anderen Ende der Welt mit Engagements zu vergnügen, die überhaupt nichts mit der Eisenbahn in Deutschland zu tun haben und Milliardenverluste einbringen. Jetzt haben wir Arriva für einen Apfel und ein Ei verkauft. Alle Geschäfte, die die Herren angefasst haben, sind gescheitert.
Wie sieht Ihre Alternative aus?
Weselsky: Ich würde die gesamte Infrastruktur inklusive der Energie, dem Vertrieb und den Werkstätten zusammenfassen und in einer GmbH organisieren. Dann ist die Geschäftsleitung weisungsgebunden. Dazu würde ich den Geldkreislauf sperren, damit das Geld nur in die Infrastruktur fließt.