Essen/Berlin. Versorger rechnen die Mehrwertsteuer auf Gas und Fernwärme unterschiedlich ab. Vivawest findet das ungerecht. Union spricht von „Glücksspiel“.
Sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer auf Gas und Fernwärme – das sollte Deutschlands Energieverbrauchern eine spürbare finanzielle Entlastung in der Energiekrise bringen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach, als im vergangenen Herbst die Entscheidung anstand, von einem wichtigen Schritt, „um den großen Druck, der auf vielen Bürgerinnen und Bürgern lastet, abzumildern“. Doch nun, da klar ist, wie die Energiekonzerne und Stadtwerke den Plan umsetzen, gibt es Zweifel daran, ob die Realität wirklich verbraucherfreundlich ist.
„Willkürlich“, „nicht gerecht“, „Glücksspiel“: Dass Deutschlands Verbraucher unterschiedlich durch die Mehrwertsteuer-Senkung für Gas und Fernwärme entlastet werden, ruft Kritik in der Wohnungswirtschaft und bei der Opposition im Bundestag hervor. Er habe „große Sorge“, sagt Uwe Eichner, der Chef des Gelsenkirchener Wohnungsunternehmens Vivawest, „dass die Hilfe nicht bei unseren Kunden ankommt“.
Das Finanzministerium habe den Energieversorgern „Spielräume bei der Art des Abrechnungszeitraums geschaffen“, kritisiert die Unionsfraktion im Bundestag in einer Anfrage an die Regierung. „Somit werden einige Verbraucher länger und stärker von der Steuersenkung profitieren als andere.“ Die CDU/CSU--Fraktion brachte die Anfrage unlängst auf den Weg, nachdem sich Leser unserer Zeitung über die Abrechnungspraxis beklagt hatten.
Hintergrund: Wegen der Energiekrise wird die Umsatzsteuer – umgangssprachlich Mehrwertsteuer – für Erdgas und Fernwärme von Anfang Oktober 2022 bis Ende März 2024 von 19 auf sieben Prozent reduziert. Da die Versorger zwischen unterschiedlichen Abrechnungsmodellen wählen können, kommt der Einspareffekt allerdings teils zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Umfängen bei den Bürgern an.
Stadtwerke Herten gehen anderen Weg als Marktführer Eon
„Die Wahl des Abrechnungsmodells durch die Gasanbieter geschieht rein willkürlich“, sagt der CDU-Finanzpolitiker Fritz Güntzler dazu. „Diese Regelung steht im direkten Widerspruch zur Intention des Gesetzgebers.“
Kundinnen und Kunden der Stadtwerke Herten zum Beispiel profitieren wegen eines „Stichtagsmodells“ schon für das Gesamtjahr 2022 von der Steuersenkung. Deutschlands Marktführer, der Essener Konzern Eon, wendet dagegen eine Methode an, die in der Energiebranche „Zeitscheibenmodell“ genannt wird. „Maßgeblich für die Festlegung des Steuersatzes ist dabei nicht der Zeitpunkt der Rechnungsstellung, sondern der Verbrauch im jeweiligen Leistungszeitraum“, erklärt Eon. Ein Beispiel: Für das Jahr 2022 fallen neun Monate lang (Januar bis September) 19 Prozent Umsatzsteuer an, drei Monate lang (Oktober bis Dezember) sieben Prozent.
Vivawest berichtet, eine Hälfte der Unternehmen, die Wohnungen des Vermieters mit Energie versorge, rechne „nach dem für die Kunden günstigeren Stichtagsmodell“ ab, das für das gesamte Abrechnungsjahr
2022 einen gesenkten Umsatzsteuersatz von sieben Prozent vorsieht. „Die andere Hälfte nutzt das sogenannte Zeitscheibenmodell.“ Hier erfolgt die Senkung erst ab dem 1. Oktober. Für neun Monate bleibt der Steuersatz bei 19 Prozent.
Verbraucherzentrale NRW für „kundenfreundliches Stichtagsmodell“
„Für einen Großteil der betroffenen Kunden bedeutet das, dass sie für das Abrechnungsjahr 2022 um ihre Entlastung von bis zu 100 Euro gebracht würden“, kritisiert Vivawest-Chef Eichner. „Wir finden das nicht gerecht.“ In Gesprächen mit Verbänden, der Politik und Versorgern werbe Vivawest für „eine einheitliche Lösung, die alle Mieterinnen und Mieter gleichermaßen entlastet“.
Große Unternehmen wie der Essener Konzern Eon sowie die Stadtwerke aus Bochum und Duisburg betonen, unterschiedliche Abrechnungsmodelle seien erlaubt.
„Eine einheitliche Anwendung des Stichtagsmodells hätte alle Bürger gleichermaßen entlastet“, merkt Unionsexperte Güntzler an. „Mit der Option zum Zeitscheibenmodell wird die Höhe der Entlastung zum Glücksspiel.“ Die Union im Bundestag dringt auf Regeln, „die eine gerechte Entlastung für alle Bürger gleichermaßen“ gewährleiste. Auch Gregor Hermanni von der Verbraucherzentrale NRW fordert, für das Jahr 2022 solle das „kundenfreundliche Stichtagsmodell zur Anwendung kommen“.
Finanzminister Lindner sieht keinen Veränderungsbedarf
In ihrer Antwort auf die Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag lässt das von Christian Lindner (FDP) geführte Finanzministerium durchblicken, dass es keinen Veränderungsbedarf sehe. Es scheint, als sei es der Bundesregierung auch darum gegangen, den Versorgern bei der Umsetzung der Steuersenkung behilflich zu sein. Eine Abrechnung nach dem Stichtagsmodell sei „wohl zumindest manchen Versorgern IT-seitig nicht möglich“ gewesen, erklärt das Ministerium. Außerdem erleichtere das Zeitscheibenmodell „den Versorgern die Abrechnung gegenüber den Kunden“.