Duisburg/Essen. Wer die Preissprünge im Supermarkt bezahlen kann, ärgert sich. Und wer sie nicht bezahlen kann? Eine Essenerin zeigt, wie sie die Lage meistert.
Drei Mahlzeiten am Tag für 5,70 Euro kochen: Für Petra Wensing kein Problem. Rund 5,70 Euro am Tag oder 174,19 Euro im Monat: Das ist die Summe, die den Empfängerinnen und Empfängern des Bürgergelds, wie Hartz IV jetzt heißt, für Nahrungsmittel zur Verfügung steht.
Petra Wensing ist allerdings auch ein Vollprofi in Sachen Haushaltung: Sie kennt jeden Spartrick, vergleicht Supermarktpreise auswendig im Kopf. Sonderangebote hat sie weit im Voraus auf dem Schirm und wenn der Bauer den Rhabarber einen Euro billiger anbietet, ist ihr das den Weg wert. Wer mit der gelernten Familienpflegerin einkaufen geht, lernt: So gut hauszuhalten, erfordert viel Arbeit – und Knowhow. Wem das fehlt, der hat entweder genug Geld – oder ein Problem.
Stark gestiegene Lebensmittelpreise sorgen für starke Umsatzeinbußen
Denn die Lebensmittelpreise sind im letzten Jahr deutlich stärker gestiegen als die Inflation von derzeit 7,2 Prozent es vermuten ließe: um 17,2 Prozent im April, was immerhin eine deutliche Verbesserung zum März mit 22,3 Prozent darstellt. Gleichzeitig ist der Umsatz der Lebensmitteleinzelhändler im März inflationsbereinigt um 10,3 Prozent eingebrochen (jeweils im Vergleich zum Vorjahresmonat). „Dabei handelt es sich um den stärksten Umsatzrückgang seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 1994“, erklärt das Statistische Bundesamt dazu. Die Preissprünge im Supermarkt, die nur mit Energiepreisen und Ukrainekrieg nicht erklärbar sind, zeigen offenbar Wirkung: Wer kann, spart beim Essen und wer muss sowieso.
Dass es hierzulande „armutsbedingte Mangelernährung und teils auch Hunger“ gebe, hat der Wissenschaftliche Beirat des Bundesernährungsministeriums (BMEL) bereits 2020 in einem Gutachten festgestellt. Dann kam Corona. Dann die Energiekrise. Günter Spikofski, Geschäftsführer der Tafel Duisburg, sagt, die jüngsten Preiserhöhungen „führen dazu, dass die Menschen, die hier hin kommen, gar nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen“. Vor Corona seien rund 2100 Menschen pro Woche versorgt worden. Heute seien es ungefähr 4800. Würde die Tafel öfter als zweimal im Monat Neuanmeldungen zulassen, wäre die Zahl noch viel größer.
Der erste Gang zur Tafel kostete „Überwindung“
Auch Petra Wensing geht zur Tafel, seit 2015, dem Jahr in dem sie arbeitslos geworden ist. „Das war schon eine Überwindung“, sagt sie rückblickend. „Heute bringe ich die Leute mit, die sonst nicht kämen.“ Petra Wensing verteilt auch selber weiter, was sie in ihrem Elektroscooter mitkriegt. Die letze Charge lagert gerade auf dem Balkon ihrer Frohnhausener Wohnung. Auf Grund einer MS-Erkrankung ist die Essenerin schwerbehindert. Rund 175 Euro bekommt sie deshalb extra im Monat.
An Arbeit mangelt es der dreifachen Mutter nicht: Sie engagiert sich beim Essener Sozialverband. Vor zwei Jahren hat sie die sogenannte Großeltern Lobby gegründet. Bei der Essener Tafel nimmt sie regelmäßig einen Schwung Formulare mit nach Hause. Dass sie beim Ausfüllen hilft, hat sich dort mittlerweile rumgesprochen. Als Verfahrensbeistand unterstützt sie zudem Kinder bei Gerichtsprozessen. Alles keine Lohnarbeit, weswegen Petra Wensing zu den laut Statistischem Bundesamt rund 20 Prozent in Deutschland lebenden „von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen“ Menschen zählt.
Armut kennt viele Gesichter
Anzusehen ist Petra Wensing das nicht. Erst recht nicht dem prall gefüllten Kühlschrank in ihrer Küche. Auch die Schränke: Bis oben voll. „Ich kaufe stets Vorrat ein“ Schlecht würde bei ihr aber gar nichts. Eine gekippte Milch? „Da mache ich mit einem Küchentuch ganz einfach Joghurt draus.“ Gelernt hat die 56-jährige so etwas von den Eltern, teils den Großeltern, oder in der Schule, wo damals noch Hauswirtschaft unterrichtet wurde. Die Ausbildung zur Familienpflegerin tat den Rest. Petra Wensing, die auch einmal eine Tagespflegestelle geleitet hat, sagt einfach: „Als selbstständige Mutter weiß man mit Geld umzugehen.“
Schon heute hat sie geplant, was in der nächsten Woche gekocht wird, was die Zutaten kosten und wie viel Geld ihr dann noch am Monatsende bleibt. Dank dieser „Monatslisten“ gibt es keine Toastwochen bei der Familie Wensing. Aber wer plant heutzutage schon seine Mahlzeiten für die ganze nächste Woche – geschweige denn den Monat? Und noch etwas hat Petra Wensing anderen, besonders jüngeren Menschen, voraus: Sie kann kochen. Sie schwört dabei auf einen Kochbuchklassiker von 1985: „Das elektrische Kochen“. „Sowas sollten unsere Kinder lernen: Wie man mit wenig Geld gut kochen kann.“
Mindestens 100 Euro mehr für Leistungsempfänger
Wer das nämlich nicht kann oder will, dürfte es schwer haben, von 5,70 Euro am Tag satt zu werden. Im Supermarkt geht Wensing am Konservenregal vorbei und sagt: „Dosenfraß. Scheint günstig, aber nach zwei Stunden haben Sie wieder Hunger.“ Ihr Weg führt stattdessen etwas überraschend zur Frischfleischtheke. Zwei abgewogene Tütchen lässt sie sich über die Theke reichen. Keine 1,50 Euro für die Fleischeinlage des heutigen Eintopfs: Herz und Leber vom Huhn. Dazu noch ein paar Knochenscheiben vom Rind, die allerdings für den Hund sind. Obwohl Petra Wensing auch ein Rezept für Knochensuppe auf Lager hätte.
Preise zu vergleichen, lohnt immer, in diesen Zeiten aber ganz besonders – sagt die Verbraucherzentrale NRW. Sie hat im Frühjahr die Preise für 20 Grundnahrungsmittel in allen großen Ketten verglichen und enorme Unterschiede festgestellt. Ein neuer Marktcheck, der in der kommenden Woche veröffentlicht wird, bestätige diesen Trend, verrät Lebensmittelexperte Frank Waskow unserer Redaktion. „Früher kostete das günstigste Mehl auf den Cent überall das gleiche“, sagt er. Heute könne man bei den Grundnahrungsmitteln theoretisch seine Kosten halbieren, wenn man nur die günstigsten Waren kauft. „Es ist sinnvoll, Zeit zu investieren, auf die Kilogramm- und Literpreise zu achten und in mehreren Märkten einzukaufen“, rät er. Eben das, was Petra Wensing macht.
Dass andere Menschen es schwerer haben als sie, weiß Petra Wensing. Sie erzählt von einer Rentnerin, die zeitweise Klopapier aus öffentlichen Toiletten geklaut hat. Wensing versucht jetzt Wohngeld für die Frau zu beantragen, die von 809 Euro Rente leben muss und gerade eine Mieterhöhung bekommen hat. Als ein alter Mann neulich an der Kasse zu wenig Geld für Bauernbrot und Leberwurst hatte, habe sie ausgeholfen. „Es fehlten 23 Cent.“ Sowas mache sie traurig. „Gegen Altersarmut muss viel mehr gemacht werden.“
Damit es reicht, müsste das Bürgergeld 100 Euro höher sein, findet Petra Wensing, eine Summe, die auch der Tafel-Chef Günter Spikofski spontan nennt – „auch wenn andere das sicher besser ausrechnen können.“ Dabei war die Einführung des Bürgergelds bereits mit einer Erhöhung der Leistungen verbunden. „50 Euro mehr, das ist keine Erhöhung, das gleicht die Preisentwicklung nicht mal ansatzweise aus“, entgegnet Spikofski, der nicht davon ausgeht, dass sich die Lage bald entspannt.
Das ifo Institut für Wirtschaftsforschung geht in einer aktuellen Einschätzung zwar von sinkenden Lebensmittelpreisen aus. Laut Ifo-Experte Timo Wollmershäuser werde aber „die Inflationsrate für die Verbraucher nur ganz langsam sinken“.