Hagen. . OP-Statistik: Im Kreis Siegen-Wittgenstein werden doppelt so viele Mandeln entfernt wie in Hagen und doppelt so viele Bypässe gelegt wie im EN-Kreis.

Ob ein Patient operiert wird oder nicht, hängt nicht nur von seinem Gesundheitszustand ab, sondern auch von seinem Wohnort. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung und der OECD werden in manchen Städten und Landkreisen acht Mal mehr Einwohnern die Mandeln oder die Prostata entfernt als anderswo. „Offensichtlich spielen hier andere Faktoren eine Rolle als nur die medizinische Notwendigkeit“, sagt Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.

Südwestfalen fällt nicht durch Extremwerte auf, aber auch hier sind die Unterschiede erheblich. Im Ennepe-Ruhr-Kreis gibt es nahezu doppelt so viele Prostata-OPs wie im Kreis Olpe. Im Kreis Siegen-Wittgenstein werden mehr als doppelt so viele Mandeln entfernt wie in Hagen und mehr als doppelt so viele Bypässe gelegt wie im EN-Kreis. Im Hochsauerlandkreis werden fast ein Drittel mehr Blinddärme entfernt als im Kreis Olpe oder in Hagen.

Wie schätzt Stiftungs-Mitarbeiterin Marion Grote Westrick diese Werte ein? „30 Prozent Unterschied sind auffällig, das Doppelte ist schon heftig.“ Doch was sind die Gründe? „Unterschiedlicher Alters- oder Geschlechterstrukturen können es nicht sein; die haben wir herausgerechnet“, sagt die Expertin. „Erstaunlich“ nennt sie die Tatsache, dass die extrem abweichenden Regionen sich seit 2007 kaum verändert haben.

Erkenntnisse bestätigt

Ferdinand M. Gerlach, der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, ist von den gestern vorgestellten Zahlen nicht überrascht: „Die Ergebnisse bestätigen leider Erkenntnisse, die wir schon länger haben“, sagt der gebürtige Marsberger. „Allerdings fehlt es nach wie vor an Wissen darüber, woran das liegt.“

Da seien auch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften gefragt, das Problem aufzuklären: „Sie müssen selbst ein Interesse daran haben, festzustellen, ob die Leitlinien für ihr jeweiliges Fachgebiet richtig sind - oder warum sie nicht angewendet werden.“ Aber es fehle in Deutschland ohnehin an der dafür notwendigen Versorgungsforschung.

Gerlach hat doch aber Vermutungen zu den Ursachen der Unterschiede? „Es gibt Hypothesen“, sagt er, doch viele Ursachen könnten eine Rolle spielen: unterschiedliche Sozialstrukturen, ein besonders hoher oder niedriger Anteil von Privatpatienten oder bestimmte Schulen, also ein Chefarzt an einer Uni-Klinik, der ein bestimmtes Vorgehen praktiziert und weitergibt. Aber wahrscheinlich sei auch das Phänomen der angebotsorientierten Nachfrage ein Faktor, also: Wo viele Ärzte und Kliniken sind, wird auch viel operiert.

Durch mehr Leitlinien allein, wie sie die Studie fordert, lasse sich das nicht verhindern: „Die sind unverbindlich und müssen es auch sein.“ Weil jeder Einzelfall zu betrachten sei und auch Patientenwünsche eine Rolle spielten. Der oberste deutsche Gesundheitsweise hat aber einen anderen Vorschlag: das Zweitmeinungsverfahren. „Bei weitreichenden Eingriffen, die nicht in einem Notfall erfolgen, sollte der Patient die Möglichkeit haben, eine qualifizierte zweite Meinung einzuholen, bei einem Spezialisten, der mit der behandelnden Klinik nicht wirtschaftlich verbunden ist und der dann ganz bewusst die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften im Blick behält.“

84 Prozent verzichten

Die Techniker Krankenkasse bietet solch ein Modell seit 2010 für Rückenoperationen an – 84 Prozent der 1442 Teilnehmer verzichteten anschließend auf die Operation. Auch Marion Grote Westrick geht davon aus, dass sich über ein Zweitmeinungsverfahren Überversorgungen korrigieren ließen. Sie plädiert aber auch für eine generelle Sensibilisierung der Patienten: „Fragen Sie Ihren Arzt nach einer Alternative.“

Sie hat Zweifel daran, ob jeder Urologe bei Prostatakrebs auch über aktives Beobachten informiert und eine Beratung beim Strahlentherapeuten empfiehlt. Dahinter müssten aber nicht unbedingt wirtschaftliche Interessen stehen: „Niedergelassene Ärzte dürfen für Zuweisungen kein Geld von Kliniken nehmen. Viele haben aber ihre eigenen Gewohnheiten. Da schleichen sich Routinen ein.“