Wittgenstein. Ehemaliger Mitarbeiter des Wisentprojektes kritisiert Trägerverein und erklärt Bedeutung der fehlenden Herdbucheinträge.

Gibt es ein Happy End für die Wisentherde? Die Entwicklung ist ungewöhnlich: Eigentlich könnte man sie sogar eine Erfolgsgeschichte nennen. Der Wisent ist 2020 auf der Roten Liste der gefährdeten Arten der Weltnaturschutzunion IUCN von „gefährdet“ auf „gering gefährdet“ herabgestuft worden. Das berichtet der World Wildlife Found (WWF), der auch das Wiederansiedlungsprojekt im Rothaargebirge unterstützt.

Im 20. Jahrhundert galten die Wisente als in freier Wildbahn ausgestorben. 1775 wurde der letzte freilebende Wisent in Deutschland erlegt. 1924 gab es weltweit sogar nur noch 54 Wisente und das ist der Kern des heutigen Problems. „Die heute lebenden Flachlandwisente gehen auf nur sieben ursprüngliche Individuen zurück, vier Bullen und drei Kühe. Vom Bergwisent gab es zu der Zeit nur noch einen einzigen Bullen. Dieser wurde mit einer kleinen Gruppe von Flachland-Wisentkühen gekreuzt und damit wurde die sogenannte Flachland-Kaukasus-Linie gegründet. Alle heute lebenden Wisente sind also die Nachkommen von zwölf Gründertieren und daher miteinander verwandt“, berichtet der WWF.

7200 Wisente weltweit

Durch gezielte Nachzuchten sei die Zahl bis 1974 auf ungefähr 1664 Tiere angewachsen, so der WWF. Und im Jahr 2023 wurden in freier Wildbahn sogar wieder 7200 Tiere gezählt. Die meisten davon leben in Polen, Weißrussland und Russland. In Westeuropa einzigartig ist das Projekt in Wittgenstein. Die Zahl der Tiere, die seit 2013 im Rothaargebirge leben, ist inzwischen ebenfalls deutlich gestiegen. Die frei umherstreifenden Herde wächst. Von den rund 40 Tieren sind aktuell mindesten 13 Kühe trächtig und werden im Frühjahr kalben. Was positiv klingt, ist aber ein Problem. Nicht nur weil Waldbauern wegen Schälschäden durch die frei umherstreifenden Wisente gegen den Trägerverein geklagt haben, sondern weil durch ein nicht ausreichendes Herdenmanagement bei vielen Tieren die genaue Herkunft - sprich Vater und Mutter - nicht geklärt ist. Sie haben keinen Eintrag im Herdbuch und auch keine Zuchtbuchnummer. Das macht es unmöglich einzelne Tiere gezielt in andere Wisentherden zu bringen, um die genetische Vielfalt der Population zu erhöhen.

Von jedem Tier hätte der genetische Fingerabdruck bestimmt werden müssen, was nicht passiert ist. Die Notwendigkeit war den Verantwortlichen offensichtlich nicht klar.
Uwe Lindner

Der ehemalige wissenschaftliche Leiter des Wisentprojektes, der die Wiederansiedlung vorbereitet und in der Anfangszeit geleitet hat, erläutert die Hintergründe: „Die Teilnahme am Zuchtbuch und damit am Artenschutzprogramm ist freiwillig, war aber klares Ziel des Wiederansiedlungsvorhabens im Rothaargebirge. Wenn man teilnimmt, muss man jedes Jahr seinen Tierbestand melden. Gibt es Geburten, führt man diese mit Nennung von Vater und Mutter auf und von den Zuchtbuchverantwortlichen erhält dann jedes Tier eine Zuchtbuchnummer. Gestorbene Tiere müssen mit Angabe der Todesursache auch gemeldet werden. Damit können die Tiere dann an andere Tierhalter, die am Arterhaltungsprogramm teilnehmen, abgegeben werden. Die Tiere für das Rothaargebirge wurden zusammen mit der Zuchtbuchführerin nach streng genetischen Gesichtspunkten ausgewählt. Damit wären auch die Nachfahren dieser Tiere von einem hohen genetischen Wert für die Arterhaltung gewesen, solange man keine Inzucht betreibt, wie es der Trägerverein getan hat“, kritisiert Lindner.

Uwe Lindners Aus beim Wisentverein

Seine offizielle Anstellung beim Trägerverein des Wisentprojektes dauerte nur wenige Monate. Der Biologe Uwe Lindner war ein Mann der ersten Stunde des Wisentprojektes. Für den Verein Taurus Naturentwicklung arbeitet er über fünf Jahre lang ehrenamtlich bzw. auf Honorarbasis am Konzept des Auswilderungsprojektes. Ab Oktober 2009 war er dann Angestellter der Wisent Wildnis Wittgenstein e.V.. Im Frühjahr 2010 wurde er mit Wirkung zum 30. April überraschend gekündigt.

„Damit sind dann 15 Jahre meines Lebens den Bach runtergegangen“, bedauert der Diplom-Biologe die Entwicklung damals im WP-Gespräch. Er hatte seinerzeit in Berlin „genau auf solch ein Projekt hingearbeitet und war froh, dass ich vor fünf Jahren über den Taurus-Verein diese Stelle bekommen habe“.

Offiziell erklärt der Vorstand damals: „Im Hinblick auf die nächste Phase des Projektes ist es notwendig, einen Projektleiter zu verpflichten, zu dessen Aufgaben einerseits die biologische Leitung gehört, der aber auch die umfassende Entwicklung des Gesamtprojektes im Fokus hat. Hierzu gehört die Verknüpfung mit dem Schaugehege ebenso wie die Implementierung des Marketingkonzeptes“, so der Vorstand des Trägervereins Wisent-Wildnis-Wittgenstein. Dafür müsse die Ausrichtung des Projektbüros und seiner personellen Besetzung neu geregelt werden.

Ab März 2010 übernahm die Universität Siegen die wissentschaftliche Begleitung des inzwischen als „Natur und Tourismus-Projekt“ benannten Wiederansiedlungsprojektes. Prof. Dr. Klaudia Witte arbeitet als Verhaltensbiologin und Prof. Dr. Ilona Ebbers als Wirtschaftswissenschaftlerin am Projekt. Wir legen großen Wert darauf, dass die gesamte Entwicklung der Akzeptanz und die Entwicklung beispielsweise im Tourismus messbar gemacht wird“, erklärte damals Paul Breuer.

Von März 2017 bis Dezember 2022 übernahm dann Wildbiologin Kaja Heising die wissenschaftliche Koordination des Projektes.

Ein Fehler aber müsse schon in der Anfangszeit des Projektes gemacht worden sein: „Alle freigesetzten Tiere hatten eine Zuchtbuchnummer und von jedem Tier hätte der genetische Fingerabdruck bestimmt werden müssen, was nicht passiert ist. Die Notwendigkeit war den Verantwortlichen offensichtlich nicht klar.“ Anhand des genetischen Fingerabdrucks hätte man Vater und Mutter der Neugeborenen bestimmten können. Hierfür hätten im Winter an den Fütterungen von den Neugeborenen Blut- oder Gewebeproben mit einem sogenannten Biopsiepfeil genommen werden müssen. Zusätzlich hätte man alle Tiere mit einem Microchip ausstatten müssen, so dass man die Tiere auch ohne weitere genetische Untersuchungen hätte erkennen kann, erläutert Lindner das Verfahren.

Potenzielle Abnehmer

Aber der Biologe sieht dennoch Chancen für die Wittgensteiner Wildrinder: „Tiere ohne Zuchtbuchnummer sind für den Artenschutz nicht restlos verloren. Sie können aber nur in Wiederansiedlungsvorhaben z.B. in Rumänien oder Aserbaidschan einen Beitrag leisten.“ Gleichzeitig erhebt Lindner, der nicht im Frieden aus dem Projekt ausgeschieden ist schwere Vorwürfe gegen den Trägerverein.: „Wenn man die Verantwortlichen für das Missmanagement nicht zur Rechenschaft zieht und sie davonkommen lässt, werden die Wisente keine Zukunft im Rothaargebirge haben, es sei denn die EU untersagt aufgrund des Schutzstatus die Entnahme der Tiere aus der freien Natur.“

Für Linder glaubt aber nicht daran, dass sich der Vorstand des insolventen Trägervereins oder auch die Naturschutzverbände dafür einsetzen, betont aber: „Es gibt Leute in Europa, denen ist der Erhalt dieser Art wichtig. Es ist vielleicht nicht schön, aber wenn die Wittgensteiner und Sauerländer nicht in der Lage sind, eine Lösung für 25 Tiere in freier Natur zu finden, ist die EU wahrscheinlich die letzte Möglichkeit! Ich werde bestimmt nicht zuschauen, wenn man das Projekt still und heimlich einstellt und wahrscheinlich auch Tiere dafür tötet.“