Aue-Wingeshausen. 2022 wurde Sevine Muradi plötzlich verhaftet, saß in Abschiebehaft. Heute will die Familie nur noch eins: Nach vorne schauen.

Mit einem Lächeln im Gesicht öffnet Sevine Muradi die Wohnungstür. Gemeinsam mit ihrem Mann Elvin und ihren drei Kindern wohnt sie im kleinen Örtchen Aue bei Bad Berleburg - ihrer „neuen Heimat“, wie sie heute froh berichten. Während Ehemann Elvin bei der Arbeit ist, kümmert sich Sevine um den Haushalt und die Kinder und lernt Deutsch. B1 hat sie bereits bestanden. Doch es war nicht immer alles so einfach für die Familie, die 2017 aus Aserbaidschan nach Deutschland und 2019 nach Aue kam. Noch vor einem Jahr wurde die dreifache Mutter überraschend festgenommen und befand sich nur wenig später in Abschiebehaft in der Nähe von Frankfurt. Eine schwere Zeit für die Familie, die seitdem in Angst lebte. In Angst vor der Abschiebung.

Heute hat die Familie mit dem Gröbsten abgeschlossen, blickt nach vorn. Dennoch aber erinnern sich Sevine und Elvin noch gut an das vergangene Jahr. „Wir lagen nachts wach und hatten Angst, dass jeden Augenblick die Polizei klingelt und uns die Abschiebung droht.“ Es war der 11. Februar 2022: Sevine Muradi und ihr Betreuer Helmut Keßler, der die Familie schon seit einigen Jahren betreut, waren auf dem Weg zur Ausländerbehörde nach Siegen. Dort müssen sie regelmäßig ihre Duldung beantragen. An diesem Tag aber begann für die Familie ein wahrer Albtraum. Die junge Mutter wurde plötzlich festgenommen. Bis zum 14. Februar saß sie in Abschiebehaft in der Nähe von Frankfurt. Dann kam sie vorerst nach Hause. „Mitten in der Nacht kam sie an, war komplett traumatisiert von der Festnahme und der Abschiebehaft.“

Geduldete Menschen im Kreis

Laut der offiziellen AZR-Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) befanden sich zum Stichtag 30. September 2023 insgesamt 441 Personen mit einer Duldung im Kreis Siegen-Wittgenstein (exklusive der Stadt Siegen, die ein eigenes Ausländeramt hat). Das teilte der Kreis auf Nachfrage Mitte Oktober mit. Zum Stichtag 30. September 2020 waren es 559 Duldungen, ein Jahr später waren es 521 und in 2022 waren es 549.

„Der Rückgang im Jahr 2023 dürfte sich mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht (§ 104c AufenthG) erklären“, so Torsten Manges, Pressesprecher des Kreises. Dies ist am 31. Dezember 2022 in Kraft getreten. Geduldete Personen, die sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen mit Aufenthaltserlaubnis, Gestattung oder Duldung in Deutschland aufgehalten haben, können somit eine „Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ für maximal 18 Monate erteilt bekommen, „um in dieser Zeit die Voraussetzungen für einen Übergang in die Bleiberechtsregelungen zu erfüllen und damit eine dauerhafte Aufenthaltslegalisierung zu erhalten“, wird es im Internet beschrieben.

Was die geduldeten Menschen im Kreis Siegen-Wittgenstein betrifft, so stammen die Menschen u. a. aus folgenden Ländern (absteigend sortiert nach Häufigkeit): Irak, Guinea und Armenien, Afghanistan, Russische Föderation, Nigeria, Republik Serbien, Syrien und Arabische Republik, Georgien, Iran und Islamische Republik, Aserbaidschan, Ukraine, Indien, Kosovo, Libanon, ungeklärt: Angola, Albanien, Algerien, Somalia, Sri Lanka, Ghana, Marokko, Tadschikistan, Bosnien und Herzegowina, China, Kirgisistan, Mongolei, Nordmazedonien, Türkei, Ägypten, Eritrea, Pakistan, Äthiopien, Cote d‘Ivoire, Bangladesch, Burundi, Kasachstan, Kenia, Kongo, Senegal, Tunesien und Usbekistan.

Das ganze Dorf und viele weitere Unterstützer kämpften damals dafür, dass die Familie in Deutschland bleiben darf. Unter dem Motto „Unsere Nachbarn bleiben hier“ wurde eine Petition gestartet und mehrere Proteste wurden durchgeführt. Mehrmals musste die Familie vor dem Petitionsausschuss des NRW-Landtags bangen. Dann wurde die Härtefallkommission des Landes NRW eingeschaltet - und die entschied, dass die Familie Muradi weitere drei Jahre bleiben darf. Für die Familie fiel damit ein Stein vom Herzen.

Ich liebe meinen Beruf und den Kontakt zu den Menschen hier in der Region.
Elvin Muradi ist froh, endlich arbeiten zu dürfen. Gemeinsam mit seiner Familie blickt er nun nach vorn.

Mehrere Jahre lang lebte die Familie bis dahin bereits in Stress und Angst. Im Jahr 2017 kam Elvin Muradi nach Deutschland mit dem Ziel, eine Ausbildung und Arbeit zu finden. In seiner ehemaligen Heimat fühlte er sich nicht mehr sicher. Acht Jahre lang hatte er in Aserbaidschan in einer Apotheke gearbeitet. Dort aber entdeckte er in einem der Lager einige Missstände, mit denen er nicht arbeiten konnte. „Ich wollte ehrlich arbeiten“, sagte Muradi bereits vor einigen Jahren gegenüber der Redaktion, die die Familie bereits seit Sommer 2021 begleitet.

Bereits im Sommer 2021 hat die Redaktion mit Familie Muradi über ihren Weg nach Aue und ihren Zielen gesprochen.
Bereits im Sommer 2021 hat die Redaktion mit Familie Muradi über ihren Weg nach Aue und ihren Zielen gesprochen. © WP | Ramona Richter

Was damals folgte, war ein Paragraf in seinem Arbeitsbuch, welcher die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle fast unmöglich machte. „Ich hatte Probleme in meiner alten Heimat und mein Vater riet mir, das Land lieber zu verlassen. Immerhin habe ich Kinder, die versorgt werden müssen“, berichtete er damals. Das tat er. Mit einem polnischen Visum reiste er in Deutschland ein, stellte 2019 einen Asylantrag, der am 23. April 2019 abgelehnt wurde und ist seitdem geduldet. Seitdem musste sich Muradi Monat für Monat um eine Duldungsverlängerung kümmern.

Helmut Keßler: Unterstützung ist wichtig

Als die ersten Asylanten nach Aue-Wingeshausen kamen, hatte Helmut Keßler seine Hilfe angeboten. „Ich hatte den Zeitrahmen, mich um sie zu kümmern. Damals hatte ich noch keine wirkliche Vorstellung davon. Ich wollte den Menschen einfach nur helfen. Es ist wichtig, die Menschen an die Hand zu nehmen und sie in die Selbstständigkeit zu begleiten“, sagte er bereits vor einigen Monaten in einem Interview mit der Redaktion.

Seitdem begleitet er Hilfesuchende zu jedem Termin bei den Behörden, zum Arzt und auch sonst in den ersten Wochen und Monaten. „Nach und nach führe ich sie dann aber in die Selbstständigkeit. Zum Beispiel bei Gesprächen. Dann sage ich: Ruf erstmal selbst an, ich sitze neben dir, wenn du nicht mehr weiter weißt. Aber sie sollen es erst einmal allein versuchen.“ Vielen Familien konnte er so kurz nach ihrer Ankunft dabei helfen, sich zu integrieren.

Aber, das ist Helmut Keßler wichtig: „Wenn ich das Gefühl habe, dass jemand sich nicht in das Leben hier in Deutschland integrieren möchte, lehne ich den Fall ab. Ich kümmere mich nur um die Menschen, die sich auch integrieren möchten. Die unsere Werte annehmen, sich in den Ort integrieren und später dann auch finanziell selbst für sich sorgen möchten.“ Er selbst hat eine klare Haltung gegenüber der Asylpolitik in Deutschland. „Diese muss generell überarbeitet werden. Wir brauchen in Deutschland Zuwanderer – aber auch Asylanten, um unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem aufrecht zuhalten. Wir geben diesem Personenkreis eine Chance, sicherer und wirtschaftlicher zu leben. Der Personenkreis muss die Chance auch nutzen und sich nach den Gegebenheiten unseres Landes verhalten. Es ist eine Win-Win Situation und jeder, wir aber auch die Zuwanderer müssen ihre Aufgaben erfüllen.“

Ein schwieriger Weg, bei dem die Familie Unterstützung von Helmut Keßler bekam. Seit Jahren schon setzt er sich für geflüchtete Menschen ein. „Aber nur, wenn sie es auch wirklich wollen“, so Keßler. „Es gab auch Fälle, die ich schon zur Betreuung abgelehnt habe.“ Doch die Familie Muradi möchte und ist froh und dankbar für die Unterstützung. Heute hat Elvin Muradi einen Führerschein und eine neue Arbeit, die ihm Spaß macht. „Ich liebe meinen Beruf und den Kontakt zu den Menschen hier in der Region“, sagt er. Seine Freizeit verbringt er gerne mit seiner Familie, unter anderem bei Spaziergängen oder im Dorfverein, wo er sich seit seiner Ankunft in Aue-Wingeshausen engagiert. „Wenn ich Elvin nach Hilfe frage, dann ist er sofort da. Er ist wirklich sehr fleißig“, sagt Helmut Keßler. Gemeinsam schauen sie nun nach vorne.