Wittgenstein. An der Inklusion von Menschen mit Handicap auch im Altkreis wird gearbeitet. Doch zu vermelden sind im Moment allenfalls Zwischenergebnisse.

„Siegen-Wittgenstein macht sich auf den Weg – Inklusion ist unsere Herausforderung“ – so ist der mittlerweile 2. Inklusionsbericht für den Kreis Siegen-Wittgenstein 2019 überschrieben. Und das Ziel eines gemeinsamen Alltags von Menschen mit und ohne Handicap sei noch lange nicht erreicht, wird im Ergebnis des rund 150-seitigen Berichts deutlich.

Beispiel Kinder- und Jugendarbeit

Arbeitsgruppen sollen sich weiter treffen

Basierend auf dem 1. Inklusionsbericht aus dem Jahr 2014 haben sich insgesamt elf Arbeitsgruppen in einer rund zweijährigen Arbeitsphase intensiv damit beschäftigt, wie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten und nichtbehinderten Menschen in der Region zur gelebten Wirklichkeit werden kann.

Die Themenschwerpunkte: 1. Inklusion, 2. Arbeit, Ausbildung und Beschäftigung, 3. Bauen und Wohnen, 4. Kinder-und Jugendarbeit, 5. Kindertageseinrichtungen, 6. Schule, 7. VHS/Weiterbildung, 8. Freizeit und Kultur, 9. Mobilität, 10. Politik, Verwaltung und Gesellschaft, 11. Gesundheit, Pflege und Soziales

Ergebnis des Inklusionsberichts ist eine Vorschlagsliste mit 49 Maßnahmen, die es nach Beschlussfassung durch den Kreistag zu koordinieren und umzusetzen gilt. Darüber hinaus soll die bisherige Kooperation in den Arbeitsgruppen „daher fortgeführt werden, um die bereits angestoßenen Prozesse und Vernetzungen […] Stück für Stück zu verstetigen“.

Beispiel Kinder- und Jugendarbeit: Hier läuft Inklusion in Wittgenstein vor allem schon an Grundschulen und weiterführenden Schulen, wenn sich Integrationshelfer begleitend um Schüler mit Körperbehinderung, geistiger Behinderung oder psychischer, seelischer Störung im schulischen Alltag kümmern. „Und der Bedarf hat zugenommen“, stellt der Bad Berleburger Bernd Schneider von der Kreistagsfraktion Bündnis90/Die Grünen fest, Mitglied der Arbeitsgruppe zu Thema.

Schulassistenz

Auch interessant

Die Helfer, oft studentische Hilfskräfte, sorgten dafür, dass beispielsweise Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen gut durch den Schulalltag kommen. „Das klappt heute deutlich besser als früher“, sagt Schneider – aber aus seiner Sicht noch nicht gut genug. „Was mir da fehlt, sind Ideen.“ Hier sei etwa der Verein „Invema“ in Kreuztal gefragt, bei dem die Integrationshelfer oder Schulassistenten oft beschäftigt seien. „Invema“ setzt sich sich seit 1993 für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen in der Region ein.

Elternarbeit

Bernd Schneider, Mitglied der Arbeitsgruppe „Kinder- und Jugendarbeit“: „Wo sind eigentlich die Bedarfe, die womöglich nicht erfüllt werden?“
Bernd Schneider, Mitglied der Arbeitsgruppe „Kinder- und Jugendarbeit“: „Wo sind eigentlich die Bedarfe, die womöglich nicht erfüllt werden?“ © WP

Eine „zentrale Bedeutung“ für die Arbeitsgruppe hat in Sachen Inklusion die Arbeit mit den Eltern betroffener Kinder und Jugendliche, „da Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung meist selbst sehr stark in die Gestaltung und Planung der Freizeit eingebunden sind“, heißt es im Inklusionsbericht. Und der Unterstützungsbedarf der Eltern sei erfahrungsgemäß nicht selten sehr hoch, so Schneider, der bis Ende 2017 selbst Mitarbeiter der Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche des Kreises Siegen-Wittgenstein im Altkreis war.

Das Unterstützungssystem nicht zuletzt mit der Sozialpädiatrie der Siegener Kinderklinik und vielen Ehrenamtlichen sei schon sehr gut, sagt Schneider, aber: „Wo sind eigentlich die Bedarfe, die womöglich nicht erfüllt werden?“ Dass sich etwas ändere, wenn genau diese Bedarfe nur deutlich genug angesprochen werden, zeige die Städtische Realschule in Bad Berleburg, die inzwischen einen Aufzug für körperbehinderte Schüler oder Lehrer habe. Oder das Johannes-Althusius-Gymnasium mit Räumen speziell für Hörbehinderte.

Willkommensbesuche

Einen hohen Stellenwert haben für Bernd Schneider auch die „Willkommensbesuche“ bei Eltern Neugeborener. Sie seien ein ideales Instrument zur Früherkennung möglicher Belastungen in den Familien. Hier regt die Arbeitsgruppe an: „Wenn bei einem neugeborenen Kind bereits ein Entwicklungshemmnis festgestellt wurde, sollen die Inhalte des Willkommensbesuchs wesentlich stärker auf die Fragen und Bedarfe von Familien mit Kindern mit einer Beeinträchtigung zugeschnitten werden“ – Hinweise auf Förder- und Beratungsmöglichkeiten inklusive.

Vereine und Leistung

Mit Blick auf die Teilhabe von Menschen mit Handicap am Alltag in ihrer Freizeit sieht Schneider in Wittgenstein durchaus Defizite. Hier liege die Problematik oft darin, dass in Gesang-, Sport- oder Wandervereinen oft die Leistung im Vordergrund stehe – und behinderte Menschen da oft nicht mithalten könnten.

Beispiel Mobilität

Beispiel Mobilität: Auch hier gibt es in Wittgenstein bereits Ergebnisse in Sachen Inklusion, macht Horst-Günter Linde deutlich, Mitglieder der UWG-Fraktion im Kreistag und 2. Vorsitzender des Arbeitskreises Schienenverkehr Südwestfalen Bahn und Bus – etwa beim barrierefreien Ausbau von Bahnsteigen und Bushaltestellen. Hier haben Kreis Siegen-Wittgenstein und auch die Wittgensteiner Kommunen zunächst die häufig genutzten Stationen, aber auch solche „im direkten Umfeld sozialer Einrichtungen wie Senioren- und Pflegeheime oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen“ in den Blick genommen – und mindestens eine Haltestelle in Ortschaften über 250 Einwohnern. Aber es müsse noch eine Menge getan werden, betont Linde.

Bushaltestellen

Auch interessant

Blick nach Bad Berleburg: Hier sind laut Inklusionsbericht 40 Bushaltestellen auszubauen – und für zehn liege mittlerweile auch ein Förderbescheid des Zweckverbandes Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) vor, so Linde. So eine Umrüstung, die laut Gesetzgeber möglichst bis 1. Januar 2022 realisiert sein sollte, koste im Übrigen pro Haltestelle etwa 40.000 Euro. Deshalb seien im städtischen Haushalt fürs laufende Jahr auch 400.000 Euro eingeplant. In der Nachbarstadt Bad Laasphe sind laut Bericht 14 der 18 ausbaupflichtigen Haltestellen per Förderantrag zum Ausbau angemeldet. In Erndtebrück liegt nach Angaben der Arbeitsgruppe bereits für alle zwölf Haltestellen ein Förderbescheid vor, sind fünf davon sogar schon modernisiert.

Bahnhöfe

Bahnhof Bad Berleburg: Der Bahnsteig ist vom Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) aus barrierefrei erreichbar – und mit einem taktiklen Leitsystem für Sehbehinderte ausgestattet, heute ein Standard für Bahnsteige und Bushaltestellen.
Bahnhof Bad Berleburg: Der Bahnsteig ist vom Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) aus barrierefrei erreichbar – und mit einem taktiklen Leitsystem für Sehbehinderte ausgestattet, heute ein Standard für Bahnsteige und Bushaltestellen. © WP

Auch einige Bahnhöfe in Wittgenstein sind bereits durchgängig bis in den Zug hinein barrierefrei ausgestattet – oder zumindest bis auf den Bahnsteig. Positive Beispiele hier: Bad Berleburg, Erndtebrück, Bad Laasphe, Niederlaasphe und Oberndorf. Immerhin sind die meisten Bahnsteige der übrigen Wittgensteiner Bahnhöfe stufenfrei erreichbar.

Ideal sei natürlich „ein barrierefreies Gesamtsystem und letztlich eine barrierefreie Reisekette“, so die Arbeitsgruppe in ihrem Fazit. So könnten Rollstuhlfahrer zum Beispiel in Hilchenbach barrierefrei den Zug nehmen und ihn in Bad Berleburg ebenso problemlos verlassen, sagt Horst-Günter Linde. „Doch wie barrierefrei ist dann ab dem Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) gleich nebenan der Bus etwa nach Girkhausen?“

Nahmobilität

Die Arbeitsgruppe befasst sich auch mit dem Begriff der „Nahmobilität“ – und nimmt damit die üblichen Hindernisse im Straßenverkehr ins Visier. Abhilfe schaffen hier Bordstein-Absenkungen, barrierefreie Ampelanlagen und Fußgänger-Leitsysteme. Aber auch öffentliche Toiletten für die Zielgruppe müssten künftig verstärkt ein Thema sein, findet Linde.

Horst Günter Linde, Mitglied im Arbeitskreis „Mobilität“, sieht für Rollstuhlfahrer am Berleburger Bahnhof keine Probleme, doch: „Wie barrierefrei ist dann ab dem Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) gleich nebenan der Bus etwa nach Girkhausen?“
Horst Günter Linde, Mitglied im Arbeitskreis „Mobilität“, sieht für Rollstuhlfahrer am Berleburger Bahnhof keine Probleme, doch: „Wie barrierefrei ist dann ab dem Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) gleich nebenan der Bus etwa nach Girkhausen?“ © WP

Wie barrierefrei müssen eigentlich die neuen Mobilstationen in Bad Berleburg, Bad Laasphe und Erndtebrück aussehen, die Bahn, den Bus und die Straße mit Auto- und Radverkehr demnächst besser miteinander verbinden sollen? Klare Aussage der Arbeitsgruppe Mobilität: „Zu den Mindeststandards […] der Mobilstationen gehören […] die Barrierefreiheit sowie ein Reliefplan für Blinde und sehbehinderte Menschen.“

Tag der Begegnung

Auch interessant

Den jährlich stattfindenden „Tag der Begegnung“ kann sich Linde gut auch am Gesundheitsstandort in Bad Berleburg vorstellen, „um ein breites Publikum anzusprechen und Menschen mit und ohne Behinderung ins Gespräch zu bringen“, wie es im Fazit der Arbeitsgruppe heißt. Konzept des Tages ist es, dass sich „an zahlreichen Infoständen […] Vereine, Selbsthilfegruppen und Institutionen der regionalen Behindertenarbeit vor[stellen] und zeigen, wie eine Teilhabe von Menschen mit Behinderung möglich ist und wie der Inklusionsprozess voranschreiten kann“.