Feudingen/Erndtebrück. . Von Kindheit an leidet der 19-Jährige an einer Rechenschwäche. Dank dem Lerntraining in Erndtebrück hat er nun eine zweite Chance erhalten.
Als Nico 2006 in die Grundschule eingeschult wurde, merkten er und seine Eltern schon, dass etwas nicht stimmte – vor allem im Mathe-Unterricht. „Alle anderen konnten es, nur ich nicht. Ich hab‘ mich gefragt: Warum?“, erzählt der heute 19-Jährige. Das Gefühl zu versagen erzeugte Frust, der sich auch auf die anderen Fächer auswirkte. Am Ende der 2. Klasse empfahl der Klassenlehrer, Nico in die 1. Klasse zurückzuversetzen. „Da meinten meine Eltern, dass sie eine andere Lösung finden“, sagt Nico.
Sie schrieben ihn schließlich an einer Schule in Bad Laasphe ein. „Erst fand ich das nicht so toll, weil ich ja schon Freunde in der Schule gefunden hatte und jetzt alleine in eine neue Klasse kam“, erinnert sich Nico. Im Endeffekt sei er aber froh über diese Entscheidung gewesen. In der Förderschul-Klasse mit 15 Schülern habe der Lehrer mehr Zeit für ihn gehabt. Das habe den Stress minimiert. Nachhaltig geholfen hat ihm schließlich Andreas Machenheimer, Lerntrainer beim CJD Siegen-Wittgenstein in Erndtebrück.
Der Erfolg
Mit ihm trifft er sich seit mittlerweile fünf Jahren, um seine Rechenschwäche in den Griff zu bekommen. Mit nachweisbarem Erfolg: Seine Noten haben sich von „Mangelhaft“ auf „Gut“ verbessert, womit er schließlich seinen Hauptschulabschluss geschafft hat. Aktuell macht Nico eine Lehre zum Ausbaufacharbeiter.
„Bis heute ist die Dyskalkulie noch nicht so intensiv erforscht wie die Legasthenie“, erklärt Andreas Machenheimer. Beiden Schwächen liegt eine Teilleistungsstörung zugrunde, die nichts mit einer Intelligenzminderung zu tun hat – auch, wenn das die Strukturen im Schulsystem schnell schlussfolgern lassen. Und genau da liegt die Wurzel des Problems. „Der Schüler sieht sich im Schulalltag ständig seiner unangenehmsten Schwäche ausgesetzt und wird dafür kritisiert, von Eltern, von Lehrern, vielleicht auch von seinen Mitschülern“, erklärt Machenheimer.
Der Teufelskreis
Es entsteht ein Teufelskreis aus Ermahnungen und Blamagen: Eltern und Lehrer fordern mehr Konzentration und Engagement, der Schüler steht zunehmend unter Druck und fühlt sich immer unsicherer. „Wenn es keine Anerkennung und Erfolgserlebnisse mehr gibt, treten oft eine Lernverweigerung, Lernmüdigkeit und Resignation ein“, so Machenheimer. Die Schule wird zum Spießrutenlauf.
Im Jahr 2017 haben nach Angaben des NRW-Schulministeriums landesweit über 11.100 Jugendliche die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen. Dabei ist sich Machenheimer sicher, dass die Zahl der Schulabbrüche durch entsprechende Diagnostik minimiert werden könnte. Dafür müssen aber auch die Themen „Legasthenie und Dyskalkulie“ ins breite, öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Es fehlt die bundesweite Anerkennung. „In erster Linie sind finanzielle Mittel vom Land erforderlich, um genügend personelle Ressourcen zu schaffen, damit lernschwache Kinder mehr Unterstützung bekommen“, so Machenheimer.
Die Motivation
Bei Nico habe sich die Störung damals glücklicherweise noch nicht so sehr festgesetzt, dass eine Lernverweigerung eingetreten wäre. „Es war relativ leicht, bei ihm wieder die Motivation zu wecken, dass er wieder Spaß am Lernen bekommt“, erzählt Machenheimer.
In der Lerntrainingsstunde beginnt Machenheimer grundsätzlich mit einem Spiel, sei es „Mau-Mau“, „Trio“ oder „Vier gewinnt“. „Das zeigt mir, wie der Schüler drauf ist, wie seine Wahrnehmung und Konzentration aktuell ist. Darauf aufbauend gestalte ich schließlich das Training.“
Eltern müssen oft selbst die Kosten der Therapie übernehmen
In der Regel müssen die Eltern selbst für die Kosten einer Lerntherapie oder eines Lerntrainings aufkommen, da die Krankenkassen lediglich die Behandlung von körperlichen oder psychischen Erkrankungen übernehmen, die möglicherweise in Folge einer Legasthenie oder Dyskalkulie entstanden sind.
Unter bestimmten Bedingungen besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf „Eingliederungshilfe“ zu stellen. Wird der Antrag dafür genehmigt, trägt das Jugendamt die Kosten einer außerschulischen Förderung bzw. Therapie.
Der Gesetzgeber setzt hierbei eine seelische Behinderung voraus, von der die Betroffenen bedroht sind und die mit einem ärztlichen Gutachten belegt werden muss.
Heute bekommt Nico ein Arbeitsblatt vorgelegt, das Wahrnehmung und Konzentration fördern soll. Dafür soll er Symbole einkreisen, die nicht in die vorgegebene Musterreihenfolge passen. Ein Flüchtigkeitsfehler passiert ihm, der Rest stimmt. „Gut gemacht, Nico“, lobt Machenheimer. Auch das stärkt das Selbstwertgefühl.
Nach jedem erfolgreichen Training bekommt der Schüler einen Token überreicht, den er in seine Sammeldose im Regal stecken kann. Bei acht gesammelten Tokens darf er sich eine Aktivität mit einer Person seiner Wahl aussuchen – egal ob Weihnachtsmarkt, Kletterhalle oder Zoobesuch. „Der Schüler entscheidet“, sagt Machenheimer. Auch das stärkt das Selbstwertgefühl.
Die Prüfung
Die theoretische Prüfung zum Ausbaufacharbeiter hat Nico bereits bestanden, die praktische muss er im Januar wiederholen – seine Prüfungsangst war zu stark. „Ich stand da vor dem Prüfungsausschuss, mit sechs fremden Leuten. Da war ich ziemlich nervös“, gibt Nico zu. Schon ein paar Tage vorher war er so aufgeregt, dass er nicht schlafen konnte. Das führte dazu, dass Nico unkonzentriert an die Aufgabenstellung heranging.
„Wir haben versucht, ihm den Druck zu nehmen“, sagt Machenheimer. „Egal wie die Prüfung ausgeht, Nico hat seinen Arbeitsplatz in einem Betrieb sicher. Er hat eine Perspektive.“ Nico bekommt eine zweite Chance. Eine, die er gerne nutzen möchte.
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