Bad Laasphe. . Frieda Liebig flieht 1946 mit ihren Kindern aus Schlesien nach Bad Laasphe. Sohn Stefan Liebig stößt bei seiner Recherche auf seine alte Heimat.

Stefan Liebig sitzt an seinem Schreibtisch im Redaktionsbüro der „DBZ – Deutsche Briefmarkenzeitung“ in Göttingen und steckt mitten in Recherchen für eine Sonderveröffentlichung der Fachzeitschrift, die das Thema „Sammeln soll vor allem Spaß machen“ in den Mittelpunkt stellt. Noch ahnt er nicht, dass beim nächsten Klick auf der geöffneten Online-Plattform eine alte Ansichtskarte aus seinem Heimatort Laasphe zu sehen sein wird, die vergessen geglaubte Erinnerungen in ihm wachruft.

Stefan Liebig aus Bad Laasphe erinnert sich an seine Eltern in der Nachkriegszeit - im Gespräch mit unserem Mitarbeiter Wolfgang Thiel
Stefan Liebig aus Bad Laasphe erinnert sich an seine Eltern in der Nachkriegszeit - im Gespräch mit unserem Mitarbeiter Wolfgang Thiel © Privat

Als Motiv hatte der Fotograf damals ein Ensemble typischer Ackerbürger- und Handwerkerhäuser in der Altstadt gewählt: Im Mittelpunkt der um 1930 entstandenen Aufnahme steht dabei als dekorativstes Gebäude das sogenannte Hartnack-Haus, Wallstraße 7. Eine Inschrift oben verweist auf Johann Georg Dreisbach aus Hemschlar als Zimmermeister. Demnach wäre die Bauzeit um 1750 anzusetzen.

Eventuell hat es sich dabei aber um Reparaturarbeiten gehandelt, ähnlich wie die Inschrift über dem Erdgeschoss für 1832 mit Zimmermeister Koch angibt. Für ein deutlich höheres Alter als 1750 spricht jedoch die Art der Verzierung, vor allem der Zahnschrift an den Fußschwellen. Ein handgeschmiedetes verziertes Schild weist auf Schlossermeister Ludwig Hartnack als einen der letzten Besitzer hin.

Hinweis auf den damaligen Besitzer
Hinweis auf den damaligen Besitzer © Wolfgang Thiel

Doch es ist nicht das Alter des giebelständigen Einzelhauses oder dessen Bauweise, die diese Ansichtskarte für Stefan Liebig zum Ausgangspunkt der Erforschung seiner familiengeschichtlichen Dokumentation werden lässt. Vielmehr ist es die Erinnerung an zwei Zimmer in der oberen Etage des alten Fachwerkhauses, die seiner 1946 aus Weißstein (Schlesien) vertriebenen Familie um seine Großmutter Frieda Liebig geb. Renner, dem Urgroßvater sowie den vier Kindern Eberhard, Werner (Stefans Vater), Irene und Manfred einen Neuanfang in Wittgenstein ermöglichten.

Nachkriegszeit in Schlesien

Wie viele andere Frauen, deren Ehemänner gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren, hatte die 35-jährige Kriegerwitwe in den Monaten unter russischer Besatzung und später unter polnischer Verwaltung nicht selten Entscheidungen zu treffen, die weit über ihre Kräfte hinausgingen. Außerdem musste sie den Kindern trotz der vorherrschenden Verhältnisse ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und sich um die Ernährung der Familienmitglieder kümmern. „Ich weiß bis heute nicht, wie es unsere Mutter fertigbrachte, aus bescheidenen Mitteln immer wieder etwas Essbares auf den Tisch zu bringen“, erinnert sich Werner Liebig.

1949 Konfirmation Eberhard. Außerdem Werner, Irene, Manfred und Mutter Frieda.
1949 Konfirmation Eberhard. Außerdem Werner, Irene, Manfred und Mutter Frieda. © Wolfgang Thiel

Angst und die Ungewissheit, was die Zukunft bringen wird, beherrschen in den Monaten nach Ende des Zweiten Weltkrieges auch das Leben in Weißstein, einem Vorort der Kreisstadt Waldenburg. Immer wieder kommt es zu körperlichen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, nicht selten zu Plünderungen. Gerüchte machen die Runde, dass die laufende Vertreibung der Deutschen noch schneller vorangetrieben werden soll.

Anne O’Hare Mc Cormick, Sonderkorrespondentin der New York Times, berichtet zu dieser Zeit aus Deutschland: „Auf der Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 waren die Siegermächte übereingekommen, dass die erzwungene Auswanderung in „humaner und geregelter Weise“ durchgeführt werden sollte. Aber wie jedermann weiß, vollzieht sich der Exodus unter albtraumhaften Zuständen, ohne internationale Beaufsichtigung oder auch nur vorgespielte humane Behandlung.“

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Den Aufzeichnungen des vor zwei Jahren verstorbenen Eberhard Liebig ist zu entnehmen: „Es war am 20. August 1946, als gegen 8 Uhr eine polnische Kommission ins Haus kam und uns befahl, innerhalb von zwei Stunden abmarschbereit auf der Straße zu stehen. Als wir mit unserem Gepäck dort Aufstellung nehmen, fließen verständlicherweise viele Tränen, gilt es doch jetzt endgültig Abschied von der Heimat zu nehmen.“

Seine Mutter bekommt noch schnell von einer Nachbarin einen Brief zugesteckt. „Wirf ihn bitte im Westen in einen Briefkasten.“ Das Schreiben wird angenommen, unter der wenigen Habe versteckt und verschwindet damit zunächst aus dem Mittelpunkt des Geschehens.

Die Gruppe um Frieda Liebig wird in der Schule von Altwasser einquartiert. Milizionäre durchsuchen dort noch einmal das Gepäck. Personen, bei denen Wertsachen vermutet werden, müssen sich in einem Raum sogar nackt ausziehen. Nach den Kontrollen weist man ihnen auf dem Bahnhof Altwasser zum Abtransport Wagen Nr. 7 zu. Platz ist dort schon zu diesem Zeitpunkt kaum vorhanden. Dennoch sollen in jeden der Güterwaggons neben dem Gepäck noch 40 bis 50 Personen gepfercht werden. Das bedeutet bei Tag und Nacht eine qualvolle Enge zu erleben, die selbst bei der Verrichtung der Notdurft keine Distanz zum Nachbarn zulässt.

Die Fahrt in den Westen

Am Abend des 21. August 1946 startet dann über Kohlfurt, Magdeburg und Mariental die Fahrt in den Westen. Vier Tage später wird das Durchgangslager Wellersberg in Siegen erreicht. Es sind weit über 100.000 Flüchtlinge und Vertriebene, die in jenen Tagen dort durchgeschleust werden. Nach der vorläufigen Einteilung in Verschickungsgebiete – für die Vertriebenen aus Weißstein soll es in den südlichen Teil Wittgensteins gehen – und der mit einem amerikanischen Mittel durchgeführten Entlausung (die besonders die Kinder in unangenehmer Erinnerung behalten), erfolgt eine Reihenuntersuchung durch Lagerärzte.

Wenig später setzt sich der Transportzug nach Laasphe, der letzten Etappe einer langen Reise, in Bewegung. Unterwegs, beim Anblick der idyllischen Landschaft geht so manchem Vertriebenen das Herz auf: „Das sieht ja aus wie Daheeme“, ist nicht selten zu hören.

Angekommen

In der Lahnstadt erwarten Vertreter der Stadtverwaltung die Neuankömmlinge, um ihnen Unterkünfte zuzuweisen. „Eine Familie mit sechs Personen war jedoch schwer zu vermitteln“, erinnert sich Werner Liebig.

So müssen sie zunächst in der Notunterkunft Gasthaus „Zur Sonne“ bleiben, ehe ihnen eine Wohnung mit zwei Zimmern im „Hartnack-Haus“ in der Wallstraße 7 zugeteilt wird. Ein Tisch, eine Gartenbank, Gartenstühle und eine Bettstelle stehen darin. Von der Frau des damaligen Pfarrers Kemper bekommt die Familie später zwei Betten mit Matratzen aus Beständen des Lazaretts.

Es geht langsam aufwärts. Bei Hartnacks bleibt die Kriegerwitwe – zunächst mit Kindern und ihrem körperlich gehandicapten Vater – vierzig Jahre lang wohnen, ehe sie 1986 ein paar Häuser weiter ihren endgültigen Alterssitz findet.