Bad Berleburg. . Die Helios-Klinik Bad Berleburg stellt die Diagnose „Schlaganfall“ bei 39-Jährigen anderthalb Tage später – weil die Symptome „atypisch“ waren.

  • Ärzte deuten Schlaganfall-Symptome zunächst als Halswirbelsäulensyndrom und Innenohrschwindel
  • PFO, eine Art Loch im Herzen, wird nach dem Schlaganfall entdeckt
  • Gillner ärgert die Ungewissheit über die „verzögerte“ Diagnose

Sie merkte schon länger, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Puls, viel zu schnell, auch im Ruhezustand. „Die Ärzte haben mir gesagt, dass das vom Rauchen käme“, sagt Jeanette Gillner. Bei ihren „Attacken“ schnellte ihr Ruhepuls auf bis zu 160 Schläge pro Minute hoch. Über drei Jahre ging das so. Dann kam der 26. April 2017. Sie wacht mitten in der Nacht auf, schweißgebadet, mit starken Schmerzen direkt unter dem Schädelknochen am Hinterkopf und am linken Ohr. Ein derart heftiges Schwindelgefühl, dass sie sich nahezu pausenlos erbrechen muss. Mit dem Rettungswagen wird sie in die Helios-Klinik in Berleburg eingeliefert. Die Diagnose kommt nach anderthalb Tagen stationären Aufenthalts: Schlaganfall. Mit 39 Jahren.

R wie Reha. „Ich weiß, dass ich viel Glück hatte“, sagt Jeanette Gillner. Der Schlaganfall wurde im Kleinhirn lokalisiert, das zuständig für die Koordination, Motorik und das Gleichgewicht ist. Vier Wochen war Jeanette Gillner in ambulanter Reha-Therapie in der Odebornklinik, um Bewegungsabläufe und Feinabstimmung zu trainieren. Wer Jeanette Gillner nicht kennt, ahnt nicht, dass ein früherer Schlaganfall-Patient vor einem sitzt. Bei dem Schlaganfall sollte es allerdings nicht bleiben.

P wie PFO(Persistierendes Foramen ovale). Nach dem Schlaganfall hat Jeanette Gillner aufgehört zu rauchen. „Ich kam früher bestimmt auf 25 bis 30 Zigaretten pro Tag“, sagt sie. Doch auch dieser Lebenswandel konnte den viel zu schnellen Ruhepuls nicht regulieren. Der Untersuchungs-Marathon ging von vorne los – sofern es überhaupt zu einem Termin kam. Im Siegener Kreisklinikum wurde sie zum Beispiel von einem Facharzt, der spezialisiert ist auf Schlaganfälle, abgewiesen. „Mir wurde gesagt, dass sie ausschließlich Privatpatienten aufnehmen“, so Gillner.

Jeanette Gillner hat mit 39 Jahren einen Schlaganfall bekommen. Sie ärgert sich darüber, dass die Diagnose verhältnismäßig spät gestellt wurde.
Jeanette Gillner hat mit 39 Jahren einen Schlaganfall bekommen. Sie ärgert sich darüber, dass die Diagnose verhältnismäßig spät gestellt wurde.

Weiter geht es in die Uniklinik Marburg. Bei einem TEE („Schluck-Echo“), ein Ultraschall des Herzens durch die Speiseröhre, finden die Ärzte schließlich eine weitere Auffälligkeit: ein Persistierendes Foramen Ovale. Eine Art angeborenes Loch in der Herzscheidewand.

H wie Herzkatheter. „Was mich am meisten geärgert hat: Der Arzt in der Uniklinik Marburg hat das bei einem ganz gewöhnlichen Ultraschall festgestellt“, erzählt Gillner. Am 10. Juli wird sie schließlich in Marburg operiert, per Herzkatheter-Eingriff mit lokaler Betäubung. „Durch die Vene wurde ein kleines Schirmchen aus einer Nickel-Titan-Legierung geschoben und an der Stelle mit dem Loch quasi ‘aufgespannt’“, erklärt Gillner. Seitdem muss sie einen zusätzlichen Blutverdünner nehmen, den sie nach der Nachsorgeuntersuchung im Januar vielleicht absetzen kann. Ihr Ruhepuls liegt jetzt bei einem Wert zwischen 80 und 90; immer noch zu hoch, aber weit unter ihren Spitzenwerten vor der OP. Einen belegbaren Zusammenhang zwischen einem PFO und einem hohen Puls gibt es aus ärztlicher Sicht allerdings nicht.

P wie Perspektive. Jeanette Gillner merkt bis heute die Auswirkungen ihres Schlaganfalls. „Mir ist zwischendurch immer noch schwindelig und schlecht, das liegt vermutlich auch an den Blutverdünnern. An manchen Tagen habe ich Probleme, mich auf eine Sache länger als fünf Minuten zu konzentrieren.“ Mit einem anerkannten Schwerbehinderungsgrad von 10 Prozent wegen des Schlaganfalls und 10 Prozent wegen einer Wirbelsäulenerkrankung kann sie ihrer früheren Tätigkeit als Haushaltshilfe nicht mehr nachgehen. „Aber ich würde gerne eine Umschulung machen, eventuell eine Bürotätigkeit.“

U wie Ungewissheit. Dass man den Schlaganfall erst nach anderthalb Tagen diagnostiziert hat und das PFO erst so spät erkannte, ärgert Jeanette Gillner. Die Ungewissheit habe viel Lebensqualität gekostet – und vor allem wütend gemacht. Dass niemand ihre Anzeichen ernst genommen habe, sondern sie automatisch als Nebenwirkungen des Rauchens abgetan habe. „Dabei können doch auch junge Menschen von Schlaganfällen betroffen sein“, sagt Gillner. Dafür möchte sie das Bewusstsein schärfen. Rückwirkend wird das an ihrer Situation nichts mehr ändern. „Aber vielleicht bleibt anderen Patienten dieses Hick-Hack erspart, wenn die Kommunikation zwischen Arzt und Patient in Zukunft besser funktioniert.“

>>> PFO BLEIBT HÄUFIG UNBEMERKT

1. Warum wurde der Schlaganfall im Kleinhirn erst anderthalb Tage später diagnostiziert?
„Weil die Symptome eines Schlaganfalls atypisch waren“, so Dr. Frank Melz, behandelnder Kardiologe von Jeanette Gillner und Chefarzt der Inneren Medizin an der Helios-Klinik Bad Berleburg. Wegen der starken Schmerzen am Schädelknochen sei im Aufnahmeprotokoll des Rettungsarztes außerdem ein Halswirbelsäulensyndrom vermerkt gewesen. Deswegen sei Jeanette Gillner zunächst in die Chirurgie aufgenommen worden. Auch eine Folgeuntersuchung des Neurologen habe zunächst noch keinen Infarkt im Kleinhirn feststellen können. „Der behandelnde Neurologe hat die Symptomatik als gutartigen Lagerungsschwindel diagnostiziert, jedoch ein MRT zur weiteren Abklärung empfohlen. Das haben wir gemacht“, sagt Dr. Melz. In diesem MRT wurde der Schlaganfall sichtbar.

Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Inneren Abteilung/Kardiologie: Dr. med. Frank Melz
Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Inneren Abteilung/Kardiologie: Dr. med. Frank Melz © Helios

„Pro Tag werden bei uns etwa fünf Patienten mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen eingeliefert. Aber davon hat nicht jeder einen Schlaganfall“, so Dr. Melz. „Ja, die Diagnose hätte früher gestellt werden können – wenn die Symptome eindeutiger gewesen wären. Wir haben uns auf die dominanten Symptome konzentriert und Frau Gillner Leitlinienkonform untersucht und behandelt.“ Ärzte müssen Symptome nach Notfall kategorisieren – „und ein gutartiger Lagerungsschwindel stellt keine akut bedrohliche Erkrankung dar“, so Melz.

2. Was genau ist ein PFO?
Die „ÄrzteZeitung“ beruft sich auf eine repräsentative Studie, nach der bis zu 25 Prozent der Erwachsenen von einem Persistierenden Foramen Ovale (PFO) betroffen sind; die meisten spüren oder wissen aber nichts davon. Der angeborene Herzfehler ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Entwicklung im Mutterleib. Beim Ungeborenen sorgt die Öffnung dafür, dass ein Teil des Blutstroms die Lunge umgehen kann. Sobald das Kind jedoch auf die Welt kommt und selbstständig atmet, wächst der Schlitz normalerweise innerhalb weniger Wochen komplett zu. Geschieht das nicht, ergeben sich in den meisten Fällen keine Probleme.

3. Warum blieb das PFO so lange unentdeckt?
„Bei einem normalen Echokardiogramm ist das PFO häufig nicht sichtbar und nur wenn man gezielt sucht, können einige davon von außen erkannt werden“, erklärt Dr. Melz. Nach einem Schlaganfall – gerade bei jungen Patienten – werde jedoch gezielt nach dem PFO geschaut. Um den Betroffenen vor einem weiteren Schlaganfall zu bewahren, wird das Loch wie im Fall von Jeanette Gillner operativ geschlossen.