Bad Berleburg. .

Flüchtlinge aus religiösen oder wirtschaftlichen Gründen, Auswanderer, demografischer Wandel – das hat es früher schon vielfach gegeben, auch und gerade in unserer Region. Um das zu verstehen, sei ein Blick in die Geschichte immer hilfreich, sagt Dr. Ulf Lückel (49) aus Girkhausen. Der evangelische Theologe und Kirchenhistoriker hat seinen Beruf zum Hobby gemacht. Und ganz nebenbei interessiert er sich für die Territorialgeschichte Südwestfalens und Hessens.

Kaum jemand kennt sich so gut aus in der Geschichte der Wittgen­steiner Dörfer wie Sie. Woher kommt Ihr besonderes Interesse?

Ulf Lückel: Zum einen habe ich schon in der Jugend Interesse an Geschichte gehabt, auch bedingt durch den damaligen Pastor Scheffler in Girkhausen, der das geweckt und gefördert hat. Und: Vater war schon immer im Heimatverein, ich habe damals schon die Zeitschrift „Wittgenstein“ gern gelesen. Zum anderen stellte ich im Studium und später immer wieder fest, dass man „ohne Geschichte“ die Gegenwart und die Zukunft schon gar nicht verstehen kann – respektive diese Vieles erklärt, weil sich doch manches wiederholt.

Heute sind Sie Schriftleiter der Zeitschrift „Wittgenstein“. Welche Aufgaben liegen bei Ihnen gerade auf dem Tisch?

Es gilt immer wieder aufs Neue, für unsere Zeitschrift „Wittgenstein“, die dreimal jährlich erscheint, interessante Artikel „einzuwerben“, potentielle Autorinnen und Autoren zu gewinnen und selbstverständlich zu beraten. Eine unangenehme Aufgabe besteht allerdings auch darin, völlig unzureichende Artikel zu „pushen“ und „upzugraden“, damit noch etwas Brauchbares daraus wird. Das ist nicht immer angenehm – vor allem, wenn man einzelne Artikel ablehnen muss, weil sie nichts oder zu wenig hergeben.

Suchen Sie bestimmte Autoren, besondere Themen?

Natur, Forst- und Landwirtschaft – das sind besondere Themen, die derzeit überhaupt nicht bearbeitet werden. Momentan erstelle ich eine Autoren-Handreichung, damit wir eine einheitliche Arbeitsgrundlage haben.

Das Brauwesen in Bad Berleburg ist eines Ihrer Themen in der Heimatforschung. Was verraten Sie uns dazu?

Tatsächlich habe ich für das Jubiläumsbuch zur Stadtgeschichte von Bad Berleburg die Brauerei-Historie Berleburgs ein wenig aufgearbeitet – und dabei die Bären-Brauerei an der Lenne, die in den 70er Jahren abgerissen wurde, und die Kronen-Brauerei in der Mühlwiese angesprochen. Viel spannender aber finde ich persönlich die Thematik des Weinanbaus in Wittgenstein, besonders in Berleburg.

Was gibt es da Interessantes zu entdecken?

Etwa, dass wir um den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648 mitten in Wittgenstein fleißig Weinanbau hatten – auf zwölf Morgen oder drei Hektar, etwa bis 1680, als die zweite kleine Eiszeit begann. Dann war abrupt Schluss. Für den Anbau gibt es übrigens Belege im Bad Berleburger Stadtbild – die Straße „Zum alten Weinberg“ zum Beispiel. Zu erforschen wäre allerdings noch, wo aus den Trauben wirklich Wein kultiviert wurde.

Zwischenfrage: Was machen eigentlich Ihre Forschungen zur evangelischen Kirche in Arfeld?

Die Forschungen zur Arfelder Kirchengeschichte sind zwar mit Erscheinen des kleinen Kirchenführers nicht abgeschlossen, aber im Wesentlichen erledigt.

Auch in den Zeiten der Reformation vor 500 Jahren gab es Glaubens- und Wirtschaftsflüchtlinge. Inwieweit lässt sich das mit der Flüchtlingssituation heute vergleichen?

Diese Thematik lässt sich mit der heutigen Situation nur bedingt vergleichen, vor allem für Wittgenstein, Südwestfalen und Hessen. Im Zeitalter der Reformation gab es in unserer Region wohl keine größeren Flüchtlingspotentiale, das änderte sich dann aber gut 100 Jahre später mit dem Dreißigjährigen Krieg. Hunger und Vertreibung brachte erste „Auswanderer“ nach Wittgenstein.

Und wann wird’s spannend?

Spannend wird die Flüchtlingsfrage dann Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts, als Religionsflüchtlinge nach Wittgenstein kamen. Hier wurde die Region so etwas wie das „gelobte Land“ für die Verfolgten aus allerlei Herrschaftsgebieten, auch aus Frankreich und der Schweiz – aber eben auch aus verschiedensten Gebieten Deutschlands. Die beiden Grafschaften wurden zur neuen Heimat – zumindest eine Zeitlang „sichere Anlegestelle“ für etwa 500 bis 800 Menschen. Und das war für die damalige Zeit eine Menge im Verhältnis zu den 250 bis 300 Einwohnern, die damals in Bad Berleburg lebten.

Wittgenstein rühmt sich als tolerant gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern. Sehen Sie das auch so? Und wie ist das im historischen Kontext zu bewerten?

Teils, teils – es waren primär einzelne Personen, die für Toleranz eingetreten sind. Oder auch nicht, wenn wir etwa an die recht „braune“ Vergangenheit denken. Von Toleranz war da nur einzeln etwas spürbar – etwa bei der „Bekennenden Kirche“, die aber auch zu vielen Ungerechtigkeiten und himmelschreiender Intoleranz geschwiegen hat, wenn wir an die Deportation von jüdischen Mitbürgern, Sinti und Roma denken oder die Behandlung von Zwangsarbeitern. Auf der anderen Seite wurden aber eben auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen – vor allem aber im Zeitalter des radikalen Pietismus.

Wie sieht es heute aus?

Zur heutigen Situation muss man wohl konstatieren, dass es eine große Zustimmung, aber auch eine gewaltige latente Ablehnung gibt, die nicht so öffentlich geäußert wird. Hören Sie sich einmal um und fragen nach – da bin ich oftmals verwundert. Andererseits verstehe ich aber durchaus Ängste und Befürchtungen vieler Menschen hier und anderswo.

Wittgenstein ist in der Geschichte aber auch eine Region der Auswanderer gewesen. Was, meinen Sie, hat das mit Demografischem Wandel heute zu tun?

In der Tat: Tausende Wittgensteiner sind ausgewandert, besonders nach Nordamerika. Aber auch in das heutige Russland, schon unter Katharina der Großen. Hier handelte es sich zum einen um reine Wirtschaftsflüchtlinge, obschon ich das Wort nicht mag, andererseits auch im 18. Jahrhundert um „Religionsflüchtlinge“, nachdem die Toleranzpolitik der Grafenhäuser andere Formen annahm und die Situation hier nicht mehr so „sonnig“ war.

Auswanderungswellen lassen oftmals – aber nicht immer – in der Geschichte auf Veränderungen in der demografischen Landschaft schließen. Dieses Modewort, welches sich vor allem die heutigen Politikerinnen und Politiker, besonders auf Regionalebene annehmen, hat oftmals seine Spiegelbilder in der Historie, siehe oben.

Was ist da Ihr Fazit?

Wer die Geschichte kennt, kann oftmals besser mit der heutigen Situation umgehen und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wer heute zum Beispiel auf dem Land keine Perspektive hat, kann dank Mobilität anderswo etwas finden.