Bad Berleburg/Hatzfeld. .

Diese Frage hat Waltraud Keune einfach nicht mehr los gelassen. Was ist aus der schwangeren Frau und ihrem Kind geworden? Unter ungewöhnlichen, fast dramatischen Umständen hat die damals 16-jährige Waltraud Hartmann aus Arfeld mit zwei Freundinnen aus Beddelhausen und Hatzfeld eine hochschwangere Hatzfelderin auf deren Weg ins Berleburger Krankenhaus begleitet und dann doch die Frau und das Schicksal dieses Kindes aus den Augen verloren. Bis vor wenigen Tagen.

Waltraud Keune hat ihre Erlebnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs in Wittgenstein noch sehr präsent vor Augen. Und sie hält sie mit ihrer alten Reiseschreibmaschine fest. Die heute 86-Jährige möchte die Erinnerung wach halten. Neben den bereits in dieser Zeitung geschilderten traumatischen Erfahrungen bei einem Bombenangriff auf Berleburg und der Eroberung Wittgensteins um Ostern 1945 hat Waltraud Keune aber auch ein großes Rätsel nicht los gelassen. Zusammen mit ihren Freundinnen, der bereits verstorbenen Annelie Scheller (geborene Dreyer) und Inge Möllenhof (geborene Fork) hat sie sich oft gefragt, was ist wohl aus der Frau und ihrem Kind geworden?

Hausgeburt kompliziert

Rückblende: In Hatzfeld erwartet im April 1945 eine Frau ein Kind. Die Hausgeburt gestaltet sich schwieriger als gedacht. Die Frau muss ins Krankenhaus nach Berleburg, sonst verliert sie das Kind. Die einzige Chance, die Frau sicher und gesund dorthin zu bringen, sind die amerikanischen Sanitäter. Die Hebamme und die Angehörigen bitten die 16-jährige Schülerin Annelie Dreyer um Hilfe. Sie hat – wie ihre Klassenkameradinnen Waltraud und Inge – bereits seit sechs Jahren Englischunterricht. „Annelie schaffte es. Die Amerikaner lassen einen Krankenwagen kommen und Annelie fährt mit den nötigen Unterlagen der Schwangeren mit dem Amerikanern Richtung Berleburg“, berichtet Waltraud Keune.

Allerdings ist Annelie ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, anschließend allein mit den beiden Amerikanern wieder zurück zu fahren. Deshalb bittet sie die Amerikaner in Beddelhausen bei ihrer Klassenkameradin Inge anzuhalten. Inge fährt mit und weiter geht es Richtung Arfeld. Dort hält der Militär-Krankenwagen vor dem Wirtschaftsgebäude der Hartmanns im Stedenhof. „Ich war erstaunt, meine beiden Klassenkameradinnen zu sehen“, erinnert sich Waltraud Keune. Sie lässt sich ebenfalls überreden: „Ich zog meine Jacke an und los ging die Fahrt.“ Die Schwangere liegt auf einer Trage hinten im Wagen und stöhnt, wenn die Wehen zu heftig werden. „Das war für uns 16-jährige Mädchen eine unbekannte, neue Situation. Ich selbst hoffte, nur bald in Berleburg zu sein, damit wir die Frau im Krankenhaus abliefern konnten.

Angst vor Amerikanern

Doch die Fahrt ist nicht einfach, weil die Brücken von der Wehrmacht gesprengt wurden und die Straßen vielfach beschädigt sind. Deshalb geht es über Dotzlar und Raumland nach Berleburg. Dort liefern die Amerikaner die Schwangere im Krankenhaus ein. Anschließend geht es auf dem selben Weg zurück nach Hatzfeld. Doch nachdem Waltraud wieder in Arfeld abgesetzt ist, entschließen sich Annelie und Inge, zusammen in Beddelhausen auszusteigen. Noch immer ist die Angst vor den fremden Eroberern groß. Daran können auch Kaugummi und Schokolade so schnell nichts ändern. „Annelie ist dann mit dem Fahrrad nach Hause gefahren“, erinnert sich Waltraud Keune an das Geschehen.

Jahrzehntelang treffen sich die Schulfreundinnen immer wieder und denken an ihre abenteuerlichen Erlebnisse. Und so kommt auch die Frage nach dem Schicksal der schwangeren Frau wieder ins Bewusstsein. Nur die Hatzfelderin Annelie ist inzwischen gestorben. Nach 70 Jahren fasst sich Waltraud Keune ein Herz: „Ich habe meine aufgeschriebenen Erinnerungen an Inge nach Soest geschickt. Sie meinte, es müsste doch möglich sein, diese Person zu finden.“ Waltraud Keune forscht nach: „Ich erkundigte mich beim Standesamt, ob es noch Unterlagen von Neugeborenen in dem Zeitraum ab 15. April 1945 gebe.“ Tatsächlich: Sieben Kinder wurden im April in Berleburg geboren. Doch leider wusste unsere Zeitzeugin den Namen der Schwangeren nicht. Aber sie gibt nicht auf: Sie erfährt von einem Hatzfelder, der im Jahr 2015 70 Jahre alt geworden ist, und findet seine Telefonnummer heraus. Doch der Mann war Anfang März geboren. Also ging die Suche weiter.

Kirchenbücher helfen

Dann hat die inzwischen in Soest wohnende Inge den richtigen Tipp. Inge Möllenhof war nach der Schule Lehrerin in Hatzfeld gewesen und kannte eine Kollegin von damals, die noch immer dort wohnt. Ein Blick in die Einschulungsunterlagen von 1951 und die Liste der Konfirmanden des Jahrgangs 1959 sorgten für den Durchbruch.

Herta Bäumner wurde am 17. April 1945 geboren. Heute heißt die so lange Gesuchte Herta Nigge und lebt immer noch in Hatzfeld. Inge Möllenhof schrieb der Frau einen Brief und Waltraud Keune telefonierte mit ihr. Doch am 7. Juni dann gab es ein ersten Treffen bei Kaffee und Kuchen mit der Bad Berleburgerin. Waltraud Keune berichtet über die dramatischen Geschehnisse rund um Herta Nigges Geburt und zeigte der heute 70-Jährigen Fotos vom früheren Krankenhaus und den drei Mädchen, die ihre Mutter begleitet haben. „Inge und ich sind froh, dieser Frau etwas über ihre Ankunft im Leben erzählen zu können. Alle sind wir glücklich über das Kennenlernen nach 70 Jahren.“