Berghausen. .
Ulrich Karl aus Hilchenbach hat seine Erlebnisse zum Kriegsende in Wittgenstein aufgeschrieben und für unsere Serie zur Verfügung gestellt. Er erinnert sich:
„Zwischen Berghausen und Aue, in der Nähe des Gasthofs „Zum Grünewald“, liegt der Einzelhof „Schmallenberger Haus“. Es ist das Geburtshaus meiner Großmutter mütterlicherseits. Dort waren meine Mutter und ich nach dem verheerenden Angriff am 16. Dezember 1944 auf Siegen einquartiert. Mein Vater war noch Soldat oder bereits in Gefangenschaft im berüchtigten Remagen. Im Hause lebte die Familie Otto Born als Besitzer sowie einige Verwandte und Bekannte, darunter meine Mutter und ich. Da die Front von Osten her immer näher rückte, wurde der Kartoffelkeller umfunktioniert in einen Schlaf- und Schutzraum, in dem wir Kinder uns durchaus wohl fühlten, wenn wir nicht „an der frischen Luft“ waren. Der Keller war über eine steile Felsentreppe zu erreichen; Decken und Matratzen auf den ausgebreiteten Kartoffeln dienten als Nachtlager. Es war abenteuerlich.
Deutsche Soldaten in der Scheune
Die körperliche Nähe zueinander erzeugte ein Sicherheitsgefühl, das sehr trügerisch war. Trügerisch deshalb, weil in der Scheune zwei oder drei deutsche Soldaten stationiert waren, die eine Funkstation betrieben und von Zeit zu Zeit den handbetriebenen Generator mit heulenden Geräuschen in Funktion setzten. Die Front der Deutschen verlief sozusagen durch das Haus, was wir so nicht wussten. Dies bewahrheitete sich bald in mehrfacher Hinsicht, deren chronologischer Ablauf nach so vielen Jahren heute nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Jedenfalls tauchten verwundete deutsche Soldaten auf, die Onkel Otto auf einem Leiterwagen, gezogen von einem Ochsengespann, in der Nacht über den Schmallenberg nach Wingeshausen transportierte – welch eine mutige Tat! Plötzlich hatten wir Granatenbeschuss in geringer Entfernung vom Haus. Alle waren im Keller. Warum die Amerikaner das Haus nicht trafen, wurde uns bald klar: Sie wollten das „Schmallenberger Haus“ als Etappenziel auf ihrem Vormarsch benutzen. Und dann, am 5. April 1945, sahen wir sie, die kakifarbenen Uniformen der Amerikaner. Die Soldaten kamen ederaufwärts am Rande der „Haushelle“ längs des großen Ederbogens auf uns zu. Die zwei oder drei deutschen Soldaten, die sich noch in der Scheune befanden, gingen in Stellung und konnten von uns nur mit Mühe davon abgehalten werden, das Feuer auf die Amerikaner zu eröffnen. Von den Deutschen haben wir anschließend nichts mehr gesehen.
Durch den Kugelhagel
Inzwischen waren wir im Haus in der Wohnstube, als plötzlich Gewehrsalven ertönten. Auf dem Weg in den Keller flogen uns die Gewehrkugeln, die die Haustür durchdrangen, um die Ohren, und es war ein Wunder, dass niemand getroffen wurde. Zitternd vor Angst saßen wir auf den Kartoffeln, als ein (vermutlich) hochrangiger amerikanischer Soldat in der Türöffnung stand. Dann ereignete sich eine Begebenheit, die sich mir am nachdrücklichsten eingeprägt hat: meine tapfere Mutter nahm mich bei der Hand und ging auf den Amerikaner zu. Dieser strich mir über den Kopf und sagte in akzentfreiem Deutsch: „Jetzt wird’s besser!“ Sofort löste sich die Spannung. Die amerikanischen Soldaten nahmen Haus und Hof in Beschlag, und nach kurzer Zeit war das „Schmallenberger Haus“ in eine Militärbasis umgewandelt mit allem möglichen Kriegsgerät, u.a. auch Granatwerfern, mit denen die Amerikaner nach Aue schossen, weil dort die Deutsche Wehrmacht (oder was davon übrig geblieben war) Widerstand leistete. Wenn geschossen wurde, mussten wir alle den Keller aufsuchen. Inzwischen war die weiße Flagge (ein Betttuch), die zum Zeichen der Ergebenheit an einem Fenster ausgehängt worden war, eingeholt worden. Die Atmosphäre kann nach meiner Erinnerung als absolut entspannt bezeichnet werden, weil die Soldaten sehr diszipliniert auftraten, obwohl noch Krieg war.
Es gab auch gelegentlich ein Stück Schokolade und – natürlich – Kaugummi für die Kinder. Das Erstaunlichste für uns Kinder aber war die Tatsache, dass es dunkelhäutige Menschen gab, die überdies zu Kindern sehr nett waren. Als die Soldaten abzogen, nahmen sie die Front mit, die über das „Schmallenberger Haus“ hinweg gezogen war. Dass ich „mittendrin“ gewesen war, ist mir beim Schreiben dieses Artikels erst richtig klar geworden.