Wittgenstein. .

Die Akten in den Fürstlichen Archiven in Bad Berleburg und Bad Laasphe in Ergänzung zu den umfangreichen Beständen zur Geschichte Wittgensteins im Landesarchiv Münster (früher Staatsarchiv) geben Kenntnis von vielen Auswanderungen im 18. und 19. Jahrhundert aus den beiden Grafschaften und dem späteren Kreis Wittgenstein. Von einer solchen Auswanderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll dieser Artikel berichten.

Abgabenbelastung

Die Bevölkerung war in dieser Zeit sehr arm und litt große Not. Nach den Napoleonischen Kriegen fiel Wittgenstein als eigenständiger Kreis 1816 an Preußen. In der Zeit von 1806 bis 1816, als Wittgenstein zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt gehörte, war die Bevölkerung doppelt belastet, da sie sowohl landesherrliche Abgaben nach Hessen und nach wie vor bestimmte standesherrliche Verpflichtungen an den jeweiligen Standesherrn in Berleburg oder Laasphe leisten mussten. Die schon durch ungünstige Faktoren beeinträchtigte Landwirtschaft, wie raues Klima, hoher Niederschlag, niedrige Temperaturen, kurze Wachstumsperiode, lange Frostgefahr und dazu ein karger, schwer zu bearbeitender, schlecht oder überhaupt nicht gedüngter Boden, gaben nur das Allernötigste zum Leben her und ließen bei dem damals herrschenden Kinderreichtum für junge Menschen, die keine Zukunftsperspektiven sahen, oft nur die Auswanderung zu. Hinzu kam, dass im April 1815 der Vulkan Tambora in Indonesien ausbrach. Dies war die bisher größte Eruption eines Vulkans in historischer Zeit und bewirkte, dass die Lavateilchen bis in hohe Luftmassen stiegen und nach und nach auf der ganzen Erde verteilt wurden.

Schlechte Ernten

Das Folgejahr 1816 ist als „Jahr ohne Sommer“ bekannt geworden. Es war mit Abstand das kälteste Jahr seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen. Auch im hiesigen Raum fielen die Ernten der Jahre 1816 bis 1818 extrem schlecht aus. Zwangsläufig stiegen die Preise für Getreide und Kartoffeln in vorher nie gekannte Höhen. Viele Bauern waren nicht mehr in der Lage Saatgut für die Neubestellung der Felder zu erwerben.

Alle diese vorgenannten Faktoren bewirkten für 1818 und 1819 eine ungewöhnlich starke Auswanderung hiesiger Menschen nach Amerika, jedoch ohne zu wissen, dass die Tambora-Katastrophe natürlich auch dort ihre Auswirkungen hatte. Der in jener Zeit sehr bekannte Hofgerichtsadvokat Johann Friedrich Sommer aus Arnsberg schrieb im April 1819 in einem Bericht zu den Verhältnissen in Wittgenstein: „In einem Land, wo von Getreide nur Hafer wächst, Hafer der nur drei Körner pro Ähre ergibt, wo der Untertan kein Holz hat, wo Feudal- und Servitutsabgaben, Dienste, Zehnte usw. den Bauern bis auf das Äußerste belasten, ist es eben nicht zu wundern, dass er jenseits des Ozeans seine Heimat sucht. Schlimmer kann es dort nicht werden. Wenn man weiß, dass es höchst seltene Ausnahmen sind, wenn ein Wittgensteiner Bauer Fleisch und Kornbrot erhält, so kann man leicht erkennen, dass Amerika Übleres nicht bieten kann.“

Die Situation für die hiesigen Bauern änderte sich in den nächsten Jahren nur wenig. Zwar wurden durch die Verträge von 1821 mit dem standesherrlichen Hause Wittgenstein-Berleburg und 1828 mit Wittgenstein-Hohenstein erste Verbesserungen erzielt, aber immer noch waren neben den staatlichen Abgaben auch Zahlungen und Verpflichtungen gegenüber den Standesherren zu leisten. Außerhalb der engeren Heimat war ein freiheitlicher Nationalstaat noch nicht in Sicht.

Der 1815 auf dem Wiener Kongress ins Leben gerufene Deutsche Bund bestand aus vielen Landesteilen, Kleinstaaten, Fürstentümern und freien Städten mit einer entsprechenden Anzahl von Gesetzen, Verordnungen und Vereinbarungen von und zwischen den Mitgliedern, die den Bürgern keine echte Freiheit gaben.

Hohe Ablösesummen

Wirklich frei wurden die Wittgen­steiner Bauern erst durch ein am 22. Dezember 1839 in Berlin ergangenes Ablösungsgesetz, mit dem die bisherigen „standesherrlichen Untersassen“ ab 1. Juli 1840 das volle Eigentum an den von ihnen genutzten Herren- und Lehngütern erhielten. Allerdings hatten sie dafür bis zum Jahre 1881 in der Umrechnung der 1875 eingeführten Markwährung die stolze Summe von etwas über 1 218 000 Mark als Ablösung an die Wittgensteiner Tilgungskasse zu entrichten. Alle diese Belastungen und das Gefühl nicht eintretender spürbarer Verbesserungen veranlassten eine neue starke Auswanderungswelle ab 1833 nach Amerika, die sich über Jahrzehnte fortsetzte und nur in der Zeit des dortigen Bürgerkrieges von 1861 bis 1865 unterbrochen wurde.

Hunger kennengelernt

In der Zeit all dieser Drangsale wuchs der am 27. August 1793 in Wunderthausen im Petersgrund geborene Georg Gabriel Wetter auf. Der ältere Bruder Georg Hermann emigrierte schon 1818 nach Amerika. Georg Gabriel hatte noch fünf weitere Geschwister und vermutlich hat er auch schon in seiner Jugend Hunger kennen gelernt. Er heiratete im November 1828 die am 16. März 1805 ebenfalls in Wunderthausen geborene Elisabeth Florentine Schneider. Dem Ehepaar wurden im Petersgrund zwei Jungen, Johann Georg 1829 und Philipp 1831, geboren. Sehr wahrscheinlich waren Erwerbsmöglichkeiten für das tägliche Brot und auch die Wohnverhältnisse im Petersgrund nicht gerade rosig, denn im März 1833 entschließt sich Wetter einen Antrag beim Königlichen Landrat Groos in Berleburg zwecks Genehmigung einer Ausreise nach Amerika einzureichen. Der zuständige Schulze Dickel aus Girkhausen bestätigt in einem Brief vom 16. März 1833, dass er glaube, dass Wetter in der Lage wäre, die Reise nach Amerika zu bestreiten. Da der Bittsteller nicht mehr zum Landwehr-Aufgebot gehöre, empfiehlt der Schulze, der Auswanderung zuzustimmen. Dies wird auch so vom Landratsamt in Berleburg an die Königliche Regierung nach Arnsberg weitergegeben. Diese stellt schon am 26. März 1833 den Auswanderungskonsens aus. Die Gebühr hierfür betrug ein Reichstaler und 15 Silbergroschen. Diese Genehmigung zur Auswanderung war neben dem Reisepass ein notwendiger Nachweis, der bei allen behördlichen Kontrollen vorgezeigt werden musste. Er ist aus besonderen Gründen, die nachstehend noch näher begründet werden, in einer Akte in Münster erhalten geblieben.

Von Bremen nach Baltimore

Etwa vier Wochen nach Erhalt der Genehmigung und der Abwicklung sonstiger privater Maßnahmen machte sich Wetter mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern von Wunderthausen aus auf den Weg nach Bremen. Am 13. Mai erreichten sie Münden (später Hannoversch Münden). Dort, am Zusammenfluss von Werra und Fulda, die fortan die Weser bilden, gab es Möglichkeiten, mit Schiffen auf der Weser Bremen zu erreichen. Dies war dann auch am 24. Mai 1833 geschafft. Wann sich die Familie in Bremen nach Baltimore eingeschifft hat, ist leider nicht bekannt, da alle Listen von Bremen vernichtet und die amerikanischen Listen der Hafenbehörde in Baltimore bei der Ankunft nur in vierteljährlichen

Zusammenstellungen für die Bundesregierung in Washington, in so genannten „Quaterly Abstracts“ veröffentlicht wurden. In der Liste von Juli bis September 1833 taucht dann auch neben verschiedenen anderen Auswanderern aus Wittgenstein die Familie Wetter auf. Amerikanischen Quellen nach sollen sie mit dem Schiff „James“ nach Baltimore gekommen sein. Über ihr weiteres Schicksal in Amerika ist nichts bekannt.

Geburt auf der Rückreise

Erstaunlich ist nur – und das ist das Überraschende – schon im gleichen Jahr reist Wetter mit seiner Familie von Baltimore aus wieder zurück nach Bremen. Vermutlich haben sie es in der Neuen Welt nicht besonders gut getroffen. Am 30. September 1833 kommt Wetter mit seinen Angehörigen mit dem Schiff „Leontine“ wieder in Bremen an. Hiervon haben wir einwandfreie Kenntnis, da bei seiner Rückreise der ursprüngliche Auswanderungskonsens vom 26. März 1833 von den Behörden eingezogen und er dadurch in einer Akte im Landesarchiv Münster (Landratsamt Wittgenstein 16 I) aufbewahrt wurde. Dies ist eine Seltenheit, da überhaupt nur in solch vergleichbaren Fällen ein solches Dokument erhalten blieb. Auf der Rückseite des Konsenses sind die vorstehend erwähnten Fakten schriftlich mit Stempelabdruck dokumentiert.

Auf der Rückreise von Amerika nach Europa wurde seine Frau Elisabeth Florentine am 16. September 1833 von einer Tochter entbunden, die auf dem Schiff getauft wurde und den Namen Amalie erhielt.

Wiederaufnahme als Untertan

Wetter und seine Familie haben etwa drei Wochen gebraucht, um von Bremen aus wieder nach Wunderthausen zu kommen. Wetter stellt am 21. Oktober beim Landratsamt in Berleburg einen Antrag auf Wiederaufnahme in den preußischen Untertanenverband. Er begründet dies wie folgt: „Im verflossenen Frühjahr reisete ich mit meiner Familie nach America, um daselbst meinen Bruder zu besuchen und auch mir für den Fall, daß ich das Leben auf der anderen Halbkugel druckloser als auf der diesseitigen finden und deshalb daselbst mein dauerndes Domicil nehmen mußte. America ließ mich das nicht finden, was ich erwartet hatte und so kehrte ich mit meiner Familie, welche sich im Verlaufe unserer Abwesenheit um eine Tochter, welche meine Frau im Schiffe gebar, vermehrte, wieder nach hierher zurück.“ Der Brief endet mit der Bitte: „Indem ich nun Einer wohllöblichen Kreisbehörde die Anzeige von meiner Zurückkunft auf meinem Grundstücke in Petersgrund hiermit ganz gehorsamst mache, bitte ich zugleich ebenso gehorsamst um geneigte Erwirkung eines Wiederaufnahme-Consenses in den hiesigen Unterthanen-Verband von Seiten der höheren Behörde.“

Der Antrag wurde von Landrat Groos befürwortet, woraufhin Arnsberg am 11. November die Wiederaufnahme genehmigte und durch einen „Receptions-Schein“ besiegelte. Diesen Nachweis der Wiederaufnahme wurde Wetter am 2. Dezember 1833 vom Landrat persönlich in Berleburg ausgehändigt. Die Kosten für die Wiederaufnahme betrugen 2 Reichstaler, 9 Silbergroschen und 3 Pfennige.

Die nächsten Jahre verbrachten Georg Gabriel Wetter und seine Angehörigen zu Hause auf dem Hof im Petersgrund. Die Familie wurde größer und größer. Zwischen Mai 1835 und Februar 1845 wurden noch vier Mädchen und ein Junge geboren, so dass nunmehr insgesamt zehn Personen ernährt werden mussten. Aber auch diese Zeit war für die immer größer werdende Familie wohl mit dem Kampf um das tägliche Brot verbunden, denn am 4. Juni 1845 stellt Wetter bei Landrat Groos einen erneuten Antrag auf Auswanderung nach Amerika für sich und seine nunmehr vergrößerte Familie.

Der zweite Versuch

Dieser Auswanderungsantrag wurde ebenfalls von Arnsberg genehmigt und so machte sich Wetter ein zweites Mal auf den langen und beschwerlichen Weg nach Amerika, diesmal sogar mit neun Familienangehörigen. Eine Passagierliste konnte trotz aller Bemühungen bisher nicht gefunden werden. Eine Nachfahrin von Georg Gabriel Wetter, Emma Wetter Hobbs aus Ogallala in Nebraska, schrieb in ihrem 1947 veröffentlichten Buch „History of the Wetter-Miller-Schneider-Riedesel Families in Europe and America“, dass das Auswanderungsschiff mit der Familie Wetter in New Orleans angelegt hat und die Familie von dort aus auf dem Mississippi mit einem Boot nach St. Louis reiste. Wie Emma Wetter Hobbs weiter schreibt, wohnte die Familie zuerst in St. Louis und zog zwei Jahre später, also 1847, nach Sherrill in Iowa um, wo Wetter 160 Acres (knapp 65.000 qm oder 6,5 ha.) hügeliges Waldland für 1,25 $ pro Acre erwarb. Später kaufte er dort noch weitere 40 Acres hinzu. Sherrill, ursprünglich Sherrills Mound, liegt in Dubuque County im Osten von Iowa an der Grenze zu Wisconsin.

Mein guter Bekannter, Paul Riedesel aus Minneapolis, dessen Vorfahren ebenfalls aus Wunderthausen stammen und der ein guter Kenner der Auswanderung aus Wunderthausen ist, schreibt, dass alle acht Kinder der Familie verheiratet waren und mit ihren eigenen kinderreichen Familien auch allesamt an verschiedenen Orten in Iowa gut situiert ansässig wurden.

Nach diesen Erkenntnissen muss man davon ausgehen, dass Wetter und seine Familienangehörigen in Amerika tatsächlich ihr Glück gefunden haben. Georg Gabriel Wetter starb am 22. Januar 1864. Er wurde auf dem „Sherrill Presbyterian Cemetery“ beigesetzt.

Biografie im Heimatheft

Einem Sohn von Georg Gabriel Wetter, Heinrich Karl, geboren am 22. Februar 1840 in Wunderthausen, hat Paul Riedesel in einem im Dezember 2012 in der Zeitschrift „Wittgenstein“ veröffentlichten Aufsatz über Wittgensteiner im amerikanischen Bürgerkrieg eine Biografie gewidmet. Zu Beginn des Bürgerkrieges 1861 war Heinrich Karl ledig, 21 Jahre alt, und damit ein passender Soldat für die Armee der Union. Er diente im 21. Iowa-Infanterie-Regiment, welches hauptsächlich zum Kampf gegen Einheiten der Konföderierten entlang des Mississippi eingesetzt wurde. Er war beteiligt unter General U. S. Grant an der für den Kriegsausgang entscheidenden Schlacht um Vicksburg in Mississippi ab 19. Mai 1863.

Nach der Kapitulation von Vicksburg am 4. Juli und der kurz darauf erfolgten Einnahme von Fort Hudson in Louisiana kontrollierte die Union das gesamte Mississippi-Tal, hatte damit die gegnerischen Truppen in zwei Teile gespalten und so den Grundstein für den erfolgreichen Kriegsausgang gelegt.

Begegnung mit Ur-Ur-Enkelin

Durch die freundliche Vermittlung einer guten Bekannten aus Diedenshausen war es mir im Juni diesen Jahres möglich mit Sheryl Puderbaugh aus Glidden in Carroll County/Iowa, die auf einem Besuch in Deutschland war, zu sprechen. Der vorgenannte Heinrich Karl Wetter war ihr Ur-Ur-Großvater. Er starb 1913 im Alter von 73 Jahren und ist auf dem „Cedar Cemetery“ in Rinard/Iowa beerdigt worden. Mrs Puderbaugh war an der Erkundung der Geschichte ihrer ausgewanderten Vorfahren sehr interessiert und hat mir für meine eigene Auswandererforschung sehr viele Hinweise geben können. Was in Erinnerung bleibt, ist die Geschichte einer für Wittgensteiner Verhältnisse seltenen, „doppelten“ Auswanderung einer Familie vor 181 beziehungsweise 169 Jahren, die offensichtlich schließlich doch dazu geführt hat, dass sie und ihre unmittelbaren Nachfahren im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ihr Glück gefunden haben.