Lippstadt/Hamm. . Verurteilt wegen Kindesmissbrauchs in 34 Fällen, seit 19 Jahren in der Forensischen Psychatrie: Ein 55 Jahre alter Sexualstraftäter soll jetzt freigelassen werden. Gutachter haben ihn als rückfallgefährdet eingestuft. Das Oberlandesgericht Hamm prüft den Fall jetzt.

Darf ein 55 Jahre alter Patient des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt-Eickelborn in wenigen Wochen in Freiheit entlassen werden? Diese Frage muss das Oberlandesgericht (OLG) Hamm klären. Der 4. Strafsenat prüft die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen einen Beschluss des Landgerichts Paderborn, nachdem der von Gutachtern als rückfallgefährdet eingestufte Mann zum 15. November aus der geschlossenen Maßregelvollzugsklinik entlassen werden muss. Der Ostwestfale, der 1995 wegen Kindesmissbrauchs in 34 Fällen verurteilt worden war, befindet sich seit 19 Jahren in Eickelborn.

Das Paderborner Gericht hatte Anfang des Jahres entschieden, dass dem Patienten unbegleitete Freigänge ermöglicht werden müssen. Externe Gutachter, die zwar Lockerungen empfohlen hatten, rieten wegen der Rückfallgefahr von solchen Ausgängen ab.

Heim-Suche gescheitert

Versuche, einen Platz in einer Wohneinrichtung eines freien Trägers zu finden, scheiterten. „Die Angesprochenen lehnten eine Aufnahme mit Hinweis auf erschöpfte Kapazitäten und die Gutachter-Aussagen ab“, so Karl-Georg Donath vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), Träger der Klinik. Die Folge: Das Gericht verfügte, dass der Westfale unter strengen Auflagen (u.a. darf er sich nicht Kindern nähern) auf freien Fuß gesetzt werden muss.

Der 55-Jährige, so Donath, sei 1995 wegen sexuellen Missbrauchs an vier Jungen im Alter von sechs bis zwölf Jahren vom Landgericht Bielefeld zu einer dreieinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gleichzeitig wurde die Unterbringung in der Forensik angeordnet. Bei den Taten habe er keine körperliche Gewalt angewendet - „er ist subtil vorgegangen.“

"Zu wenig Auffangmöglichkeiten"

In Deutschland werden psychisch kranke Straftäter in den Maßregelvollzug (Forensik) eingewiesen, wenn sie für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden können. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGH) und des Bundesgerichtshofs (BGH) in der jüngeren Vergangenheit haben die Schwelle für eine lange Unterbringung im Maßregelvollzug immer höher gesetzt. Gerichte müssten die Verhältnismäßigkeit zwischen Gefährlichkeit und dem Aufenthalt in einer Forensik prüfen.

LWL-Sprecher Donath hat Zweifel, ob der Richterspruch aus Paderborn mit der „Lebenswirklichkeit“ in Einklang zu bringen ist. „Die juristische Vorgabe kollidiert mit der Meinung der Gutachter, dass für den Mann die höchste Lockerungsstufe noch nicht angebracht ist“, sagt Donath. Er sieht als einzigen Kompromiss die Überführung in eine Wohneinrichtung, in der der 55-Jährige einen fest strukturierten Tagesablauf hat sowie eine engmaschige Betreuung und Kontrolle. Problem: „Es gibt zu wenig solcher Auffangmöglichkeiten bzw. soziale Empfangsräume.“

„Ein Organisationsverschulden“

In die gleiche Kerbe schlägt der Anwalt des Patienten: „Es ist ein Organisationsverschulden“, sagt Carsten Ernst, „es gibt genug Einweisungseinrichtungen für Straftäter, aber zu wenig geeignete für die Therapie bzw. die Nachbehandlung im Anschluss an den Aufenthalt hinter Gittern.“ Ein Problem auch in Bezug auf Sicherungsverwahrte.

Dies sieht das Gesundheitsministerium nicht so: „Dass Unterbringungen außerhalb des Maßregelvollzugs in NRW generell schwierig wären, diesen Eindruck teilen wir nicht“, stellt Christoph Meinerz klar. Dem Ministeriumssprecher zufolge könne es in Einzelfällen „nicht einfach sein“, für Patienten geeignete Wohnheime zu finden. Das könne u.a. daran liegen, dass sich entsprechende Einrichtungen in der Regel in der Trägerschaft von freien Wohlfahrtsverbänden befinden. „Weder die forensischen Einrichtungen noch die Strafvollstreckungsgerichte können die Träger verpflichten, Patienten aus dem Maßregelvollzug aufzunehmen.“ Zudem müsse der Patient bereit sein, freiwillig in einer solchen Einrichtung zu ­leben.

"Sorgfalt geht vor Geschwindigkeit"

Der 55-Jährige will nach Angaben seines Anwalts zu seinen Eltern zurückkehren. Vorausgesetzt das OLG bestätigt die Entscheidung des Paderborner Gerichts. Ob dies bis zum 15. November geschieht, ist eher ungewiss. „Sorgfalt geht vor Geschwindigkeit“, sagt OLG-Sprecher Christian Nubbemeyer. So lange der Senat nicht entschieden hat, könne eine Freilassung nicht vollzogen werden.

Man orientiere sich an der EuGH- und BGH-Rechtsprechung: zum Beispiel, dass die Freiheit nicht weiter entzogen werden kann, weil es Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung von Lockerungen oder Nachbehandlungen gibt. „Aber es muss auch der Gefährlichkeit eines Menschen Rechnung getragen werden.“

Kürzlich wurde auf einer Expertentagung die Zahl von mehr als 30 Patienten in Westfalen genannt, die zwischen 2011 und 2013 in die Freiheit entlassen wurden, weil Gerichte der Ansicht waren, dass eine weitere Unterbringung unverhältnismäßig sei. Das OLG Hamm ist oft mit dieser Thematik befasst. Nubbemeyer: „Solche Fälle sind Standard bei uns.“