Arnsberg/Soest.. Vor der 2. Großen Strafkammer des Landgerichts Arnsberg hat am Dienstag der Prozess gegen eine 22 Jahre alte Soesterin begonnen. Die Frau soll ihren dreieinhalb Monate alten Säugling tagelang in der Wohnung allein gelassen haben. Das Kind verdurstete.
Die junge Frau aus Soest gibt ihrer dreieinhalb Monate alten Tochter noch das Fläschchen, wechselt die Windel, legt die Kleine im Strampler ins Bett. Ohne Decke. Als das Kind eingeschlafen ist, verlässt sie die Wohnung, steigt am Donnerstag, dem 31. Oktober 2013, kurz vor Mitternacht in den Zug nach Münster, besucht eine Halloween-Party in einer Diskothek und feiert bis Sonntagmorgen durch.
Am Montag später kehrt sie in ihre Wohnung zurück und findet ihr Baby vor - tot. Verdurstet. „Ich habe mein Kind allein gelassen und es dann einfach vergessen“, sagte die 22-Jährige am Dienstag zum Prozessauftakt vor dem Landgericht Arnsberg.
Es ist eine Tragödie, die vor dem Schwurgericht verhandelt wird. Richter Willi Erdmann ist ein erfahrener Jurist. Er bittet alle Beteiligten um ein „Höchstmaß an Sachlichkeit“ - aber die Umstände des Kindstods gehen auch an seine Grenzen der Vorstellungskraft und Belastbarkeit. „Man lässt doch ein Kind nicht einfach so allein.“
Vorwurf Mord durch Unterlassen
Staatsanwalt Marco Karlin wirft der kleingewachsenen Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und dem dunklen Kapuzenpullover Mord durch Unterlassen vor. Das Kind, das einen „mehrtägigen Sterbeprozess“ durchleiden musste, habe ihr im Weg gestanden. Davon will die 22-Jährige nichts wissen. „Ich habe mein Kind doch geliebt, mich immer um sie gekümmert.“
Vor dem Verlassen der Wohnung am 31. Oktober hatte die Soesterin versucht, ihre Tochter bei Bekannten oder Verwandten unterzubringen. Niemand hat Zeit, also beschließt sie, den Zug nach Münster um 23.45 Uhr zu nehmen und um 5 Uhr morgens zurückzukehren. Doch in dem Club berauscht sie sich mit Ecstasy und Amphetaminen und erzählt, dass ihr Kind bei den Großeltern ist („ich habe das dann auch geglaubt“).
Baby ist tot, Mutter schreibt auf Facebook über Kirmes
Am späten Sonntagnachmittag erinnert sie sich an die Kleine, hat Angst, dass etwas passiert sein könnte. Aber erst am Montagmorgen (5. November) reist sie zurück nach Soest und findet den Leichnam des Kindes. Am nächsten Tag fährt sie wieder nach Münster und postet über Facebook, dass in Soest Kirmes ist.
„Wie kann man nur so reagieren?“, fragt Richter Erdmann. Erst am 18. November entdeckt die Polizei die Leiche in der vermüllten Wohnung. Ihre Betreuerin von der Familienhilfe war zuletzt am 16. Oktober darin. „Da sah es noch nicht so aus“, sagt die Angeklagte.
Schon als Neun- und Zehnjährige Alkohol konsumiert
Wenige Tage bevor sie ihr Kind zurückgelassen hatte, war sie noch mit einer Bekannten in einem Beerdigungsinstitut. Sie fragte nach einer Seebestattung für ihre angeblich unheilbar kranke Tochter. „Solche Lügengeschichten habe ich aufgrund meiner psychischen Erkrankung öfters erzählt“, sagt die junge Frau, die mehrfach in Behandlung war und schon als „Neun-, Zehnjährige“ Alkohol konsumierte. Bier und Schnaps. „Das, was Mama und Papa getrunken haben.“
Ihre „stark alkoholkranken Eltern“ trennen sich, als die heute 22-Jährige in der vierten Klasse ist. Mit 13 kommt sie in eine Pflegefamilie. Es lief „super“, sagt sie. „Ich lernte mit Regeln umzugehen. Das kannte ich vorher nicht.“
Als sie 16 ist, zieht die Familie aus Norddeutschland nach Soest. Sie macht den Haupt- und Realschulabschluss. Mit 19 mietet sie eine eigene Wohnung an. Einen Monat nach einer Abtreibung ist sie wieder schwanger. Diesmal will sie das Baby. Der Kindsvater wendet sich von ihr ab. Zwei Mal in der Woche bekommt sie Besuch von der Familienhilfe.
"Das Sterben ging über viele Stunden"
Nach der Geburt am 21. Juli entwickelt sich die Kleine „super“, wie die 22-Jährige sagt. Bei der U 4-Untersuchung am 14. Oktober wiegt das Kind 5500 Gramm, in der Gerichtsmedizin sind es 1,5 Kilo weniger. „Es muss zwischen dem 14. und dem 31. Oktober Ernährungsmangel gegeben haben“, sagt Pathologe Dr. Ralf Zweihoff. Die Todesursache aber dürfte fehlende Flüssigkeitszufuhr sein. Der Tod müsste nach ein bis drei Tagen eingetreten sein. „Das Sterben ging über viele Stunden.“