Arnsberg. . Drei Frauen erinnern sich an die Nacht der Möhnebombardierung

Die Bilder sind schwarz-weiß, ein wenig unscharf, irgendwie weit weg. Doch mit der Erinnerung werden sie lebendig, bekommen Farben und die Dramatik, die sie als Illustration in einem Buch nicht ausstrahlen können. Margret Wilmes hat den Mond noch vor Augen. Jene riesige, anfangs rot gefärbte Scheibe, die später in der Nacht die Katastrophe beleuchten sollte. „Solch einen Mond habe ich nie wieder gesehen“, sagt die 86-Jährige.

Margret Wilmes, geborene Baader, sitzt mit ihrer Schwester Maria Brüggemann und Schwägerin Änne Schlenga um den Tisch. Ein Bild der zerstörten Möhnetalsperre macht die Runde, dann eines von der Möhnestraße in Neheim, in der Margret und Ria, wie die heute 91-Jährige von allen genannt wird, damals lebten. Ganz schwach ist ein dunkler Rand am Fuß der Häuser zu erkennen, Männer stehen mit Schaufeln und Schubkarren auf der Straße.

Die Fenster rappelten

„Da war schon alles vorbei“, sagt Ria Brüggemann. 1,75 Meter hoch hatte das Wasser in den Häusern gestanden. In ihrer Straße hatten die ­Menschen Glück. Der Blockwart, Maria Brüggemanns späterer Schwiegervater, hatte sie alle gewarnt. Doch anderswo brachte das Wasser der Möhne den Tod. „Es war ja Fliegeralarm, da haben die Menschen im Keller gesessen“, sagt Änne Schlenga.

Familie Baader war längst wieder in den Betten, als Vater und Tochter Ria die Explosionen hörten. „Da rappelten die Fenster.“ Danach herrschte Stille. Der Blick aus dem Fenster offenbarte, dass etwas passiert sein musste. „Wie eine Nebelwand kam das Wasser auf uns zu“, erinnert sich Ria Brüggemann. Und die Nachbarin lief mit dem Bettzeug auf dem Rücken schon über die Straße. „Et Water van de Meine kümmt“, hat sie auf Platt gerufen und ist davon gelaufen. „Mit Kissen und Decken über der Schulter.“

Während die Familie auf die ­Straße rennt, läuft Vater Baader noch in den Keller. „Dort lagen doch unsere Papiere, falls beim Luftangriff etwas passieren sollte“, erinnert sich Margret Wilmes. Und mit der Erinnerung kommt auch die Angst um den Vater wieder, der nicht schnell genug nachkam. „Wir haben uns immer wieder umgeschaut, ob er endlich kommt.“

Mehr als 1200 Tote

Schließlich erreicht der Mann die Familie wieder, die sich den Berg ­hinauf vor dem Wasser rettet. „Meinen Hüfthalter hatte er sich in die Tasche gestopft“, sagt Ria Brüggemann und lacht. Sie kann lachen, denn die Eltern und ihre fünf Kinder haben überlebt. Nur „Emmy“, die Ziege von Tante Grete und die Kaninchen lassen ihr Leben. Was sie mitansehen müssen, lässt das Lachen aber schnell wieder ersterben. „Die Baracken vom Lager sind an uns vorbei geschwommen. Mit den Frauen darin“, sagt Margret Wilmes. „Da ist niemand mehr rausgekommen.“ 1200 Tote sollen es damals allein in dem Kriegsgefangenen-Lager gewesen sein, dessen ­Baracken am Ufer standen. „Frauen aus der Ukraine schliefen dort“, erinnert sich Ria Brüggemann. Frauen, die in der Rüstungsindustrie für den von manchen immer noch beschworenen Endsieg schuften mussten.

Ein Sieg, an den die Nationalsozialisten in Neheim noch glaubten. Dass die britischen Bomber die Möhnesperre getroffen hatten, ließ sich nicht geheim halten. Dass mehr als 1200 Menschen ihr Leben lassen mussten, sollte dagegen nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung dringen. „Am Tag der Beerdigung haben sie uns auf Lastwagen gescheucht“, erinnert sich Änne Schlenga, die damals bei der Firma F. W. Brökelmann arbeitete. „Angeblich sei die Sorpe-Mauer gebrochen.“

Doch die Lastwagen voller Leichen, die die damals jungen Frauen an sich vorbeifahren sahen, die ließen sich nicht verbergen. „Da lagen die Toten übereinander und wippten, wenn der Wagen über die Straße holperte“, hat Margret Wilmes noch heute das grausige Bild vor ­Augen. Und auch Änne Schlenga ­erinnert sich an schreckliche Bilder. „Beim Bergen der Leichen brachen die Arme ab, die Toten lagen zwischen Baumstämmen und Kirchenbänken, die aus dem Kloster Himmelpforten hinausgespült worden waren.“

In der Nacht zum Muttertag fielen die Bomben und das Wasser kam, bis Weihnachten dauerte es, bis die Familie wieder zu Hause war. Das Wasser hatte die Holzbalken in den Häusern aufgeweicht. Schimmel und Schwamm waren die Folge. Zwischen der Vertäfelung im Flur keimte der Hafer, der mit den Möhne-Fluten aus den Getreidespeichern geschwemmt worden war. „Der Putz wurde abgeschlagen, die Böden herausgerissen, so dass wir von der Küche in den Keller schauen konnten“, sagt Ria Brüggemann. „Wir haben die Arme aufgekrempelt und neu angefangen.“

Das Leben ging weiter

Die Spuren des Wassers wurden beseitigt. Änne Schlenga schrubbte die Pläne ihrer Firma am Flussufer, Ria Brüggemann schippte den Schlamm weg, bis die Handgelenke schmerzten. „Ich habe mit Sehnenscheidenentzündung im Büro stenografiert“, erinnert sie sich. Das Leben ging weiter. Für die drei Frauen ein Leben, das sie nun fast siebzig Jahre in Frieden leben. Die Erinnerungen rücken in den Hintergrund, verblassen. Bis man sie zurückholt. Wie in diesem Jahr. 70 Jahre nach der Vollmondnacht am Ufer der Möhne.